Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Mutter in die Mitte stellt und die Aufmerksamkeit auf sie richtet. Alle drei blicken in die Kamera, anders als Gretl ganz rechts, die im Profil zu sehen ist. Dass sie dem Fotografen so marginal erscheint, deutet die Beziehung zu ihrer Mutter und ihren Schwestern an. Schnitte man sie weg, sie würde nicht fehlen.
Gretls Onkel Otto war ihr engster Verwandter, der sich über die konventionelle Moral hinwegsetzte. Als seine Frau Henny 1913 starb, berichtete Otto, nur ihre »treue Jungfer« Dagmar und Hennys Arzt seien dabei gewesen. Binnen kurzem war Dagmar nicht nur Ottos Haushälterin, sondern auch seine Geliebte. 1915, als er in der k.u.k. Armee diente, war sie schwanger. Als das Baby Gudrun geboren werden sollte, ging sie in ihre Heimat Dänemark, statt in Wien zu bleiben, und blieb dann auf Ottos Betreiben dort; Familie und Freunde sollten nicht erfahren, dass seine Haushälterin ihm ein Kind geboren hatte.
Gretls Tagebuch lässt vermuten, dass Dagmars Stellung in Ottos Familie damals über die einer Hausangestellten hinausging. Wenn sie während Ottos Urlauben gelegentlich Wien besuchte, gingen sie zusammen aus, manchmal begleitet von Robert, Ottos Sohn aus erster Ehe. Kurz vor Weihnachten 1917 besuchten Otto, Robert und Dagmar – in dieser Reihenfolge notierte Gretl sie stets, sie trennte Dagmar nicht nur von Otto, sondern setzte sie auch an die letzte Stelle – Ottos Eltern. Anfang des neuen Jahres kamen Otto, Robert und Dagmar in die Wohllebengasse zum Abendessen, im Juni besuchten Otto und Dagmar wieder seine Mutter und seinen Vater, bevor sie zusammen mit Robert bei den Gallias auftauchten.
Das alles geschah, während Otto nach wie vor der Familie nichts von Gudrun erzählte. Bis sie zwei Jahre alt war, hatte er wenig Gelegenheit, sie zu sehen, da er in der Armee diente. Auch nach dem Krieg, als Dagmar und er in Bruntál lebten, wie Freudenthal nach dem Krieg hieß, als es nun zur neu entstandenen Tschechoslowakei gehörte, blieb das so. Da Otto und Dagmar in Bruntál vorgaben, als Herr und Bedienstete statt als Mann und Geliebte zusammenzuleben, ließen sie Gudrun bis Ende 1919 oder Anfang 1920 in Dänemark bei Dagmars Mutter. Dann fand Hermine heraus, was geschehen war.
Am liebsten hätte sie es gesehen, wenn Otto es seinem Bruder Guido gleichgetan und eine Frau wie Nelly Bunzl gefunden hätte: eine Christin mit üppiger Aussteuer und der gesellschaftlichen Gewandtheit und verfeinerten Kultur der Mittelklasse. Nachdem Guido und Nelly ihr Eheleben in ihrer Hoffmann-Wohnung in Wien begonnen hatten, waren sie nach Fulnek in Nordmähren gezogen, wo Guido bis zu den tschechischen Landreformen Mitte der zwanziger Jahre Getreide anbaute und Vieh züchtete sowie die Milchpulverfabrik der Hamburgers leitete; außerdem führte er ein Sägewerk und eine Kistenfabrik. Die dreistöckige Villa der Familie mit ihren sechzehn Zimmern wurde von einer ganzen Heerschar an Bediensteten in Schuss gehalten, darunter eine Gouvernante und ein Chauffeur. Guido und Nelly verkehrten mit dem lokalen Adel und ritten bei Fuchsjagden mit.
Die Angst der Familienmitglieder, nur wegen ihres Geldes geheiratet zu werden, wird in einer von meiner Mutter über siebzig Jahre später erzählten Geschichte über Hermines jüngsten Bruder Paul deutlich. Er war einer der vielen mitteleuropäischen jüdischen Konvertiten, die unter ihrem Stand heiraten zu müssen glaubten, um eine christliche Partnerin zu finden. Die Gallias und Hamburgers wiederum nahmen die Ambitionen seiner Frau Felizitas, meist Fely genannt, ins Visier. »Es hieß«, schrieb meine Mutter, Ottos Sohn aus seiner ersten Ehre, Robert, habe Fely umworben und vielleicht eine Affäre mit ihr gehabt, aber sie, die aus einer Kleinbürgerfamilie stammte, habe den reicheren Paul vorgezogen.« Fely war »ein sehr hübsches armes Mädchen, das auf einen reichen Ehemann aus war«.
Wäre Otto nicht so an Dagmar gehangen, die Lösung wäre einfach gewesen. Wie viele bürgerliche Männer, die uneheliche Kinder zeugten, hätte er ihr den Laufpass geben und einen finanziellen Beitrag zu Gudruns Unterhalt leisten können. Doch Otto wollte Dagmar als Gefährtin und Geliebte bei sich haben und zugleich die Schande vermeiden, seine Haushälterin zu heiraten. Wegen Gudrun erhob Hermine dagegen Einwände. Obwohl sie bestürzt war, dass einer ihrer Brüder unter solchen Umständen heiraten und dadurch die Reputation der Familie ramponieren würde, verlangte sie, Otto solle Dagmar heiraten, damit
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