Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
der geschieden war, als »Mordsflirt«, aber sehr nett und unterhaltsam. Obwohl einer ihrer Cousins sie zum Abendessen begleitet hatte, brachte Fix sie nachhause – ohne Anstandsperson – und »machte ihr sehr den Hof«. Diesen Abend bezeichnete sie als »brillant«.
Moriz’ Leiden setzte ihr allerdings Schranken. Nachdem er krank geworden war, besuchte Gretl bloß noch zwei Konzerte, ein Theaterstück und eine Aufführung einer der führenden Vertreterinnen des modernen Tanzes, der Schwedin Ronny Johansson, die, wie Gretl bemerkte, nicht nur »Tanzgenie« war, sondern auch »die schönsten Beine und eine herrliche Figur« hatte; das lässt vermuten, dass Gretl bei allen Anstrengungen, die sie unternahm, gerne noch mehr abgenommen hätte. Sie besuchte auch eine Nachmittagsgesellschaft und einen Hausball, bevor der zunehmend schlechtere Zustand Moriz’ sie am Ausgehen hinderte.
Sonst hatte Gretl Privatunterricht in Englisch und Französisch und verbrachte den Tag teilweise mit Übungen. Noch mehr Zeit widmete sie der Musik; Anfang des Jahres lernte sie Geige und Flöte, später Gitarre, das Klavier jedoch blieb ihr wichtigstes Instrument. Ihre Lehrerin Malwine Bree war vor allem für ihr Buch »Die Grundlage der Methode Leschetizky« bekannt, das auf ihren Erfahrungen als wichtigste Assistentin von Theodor Leschetizky beruhte, dem berühmtesten Klavierlehrer der Welt, zu dessen Schülern Ignacy Paderewski und Artur Schnabel zählten. Bis Moriz ernstlich krank war, hatte Gretl wöchentlich Unterricht, sie übte mindestens zwei Stunden am Tag, spielte oft zu vier Händen und gelegentlich auch Kammermusik.
Hin und wieder war sie auch ein wenig für Moriz tätig, seitdem er ihrem alten Wunsch nachgekommen war, seine Sekretärin zu spielen. Meist diktierte er zwei, drei Briefe, und sie schrieb in Stenografie mit, die sie als junges Mädchen zu lernen begonnen und seither immer wieder geübt hatte. Dann tippte sie die Briefe ab. Als er ans Bett gefesselt war, hatte sie mehr damit zu tun, manchmal nahm sie den ganzen Nachmittag Diktate auf, bis er zu krank war, um seine Firmen zu leiten.
Hausarbeit war Gretl fast vollkommen fremd, da die Familie so viel Personal beschäftigte. Als aber wegen des Krieges viele Frauen nicht mehr in Dienst gingen, sondern andere Berufe ausübten, verlangte Hermine von Gretl, mehr mitzuhelfen. Meist war sie in den straßenseitig gelegenen Räumen beschäftigt, sie putzte die Böden und Fenster und behandelte die Teppiche zum Schutz gegen Motten mit Kampfer. Manchmal hatte sie auch in der Küche zu tun, wo sie ebenfalls putzte, das Fleisch abhängen ließ, die Wäsche zählte und den Wäscheschrank aufräumte. Gelegentlich arbeitete sie am Dachboden, wo die Wäsche aufzuhängen war, und im Keller, der als Lagerraum diente. »Zweimal im Keller«, notierte sie eines Morgens, als sie sich voller Kummer »sehr häuslich« nannte.
Lene, Hermine, Käthe und Gretl. Ende 1917 oder Anfang 1918.
Hermine trug zu diesem Kummer noch bei. Gretl hatte das Gefühl, eigentlich Lob zu verdienen, aber Hermine kritisierte sie dauernd, und wenn sie stritten, schrie sie sie entweder an oder weigerte sich, mit ihr zu sprechen. Dazu kamen die Sticheleien der Zwillinge, die ihre Überlegenheit als Studentinnen auf dem Weg zum Doktorat betonten, was bedeutete, dass sie in der Wohnung so gut wie gar nicht zu helfen brauchten. Gretls Erbitterung zeigte sich deutlich zu Ostern; sie bereitete Eier und Süßigkeiten vor, ging aber nicht in die Kirche. »Eigentlich wüsste ich gerne, warum ich überhaupt lebe?!«, rief sie. »Wenn ich wenigstens einen Beruf hätte, so wäre es schon etwas anderes. Stenotypistin darf ich nicht werden, und Klavier spielen sieht man bei uns für etwas total Überflüssiges an. Und Mama helfen?! Das ist auch so ’ne Sache! Ich wünsche mir manchmal von ganzem Herzen verheiratet zu sein und nach den ganz bösen Krachen tut es mir manchmal fast leid, dass ich damals nicht doch geheiratet habe.«
Ein Ende 1917 oder Anfang 1918 aufgenommenes Foto von Hermine, Gretl, Käthe und Lene ist aufschlussreich. Hermine sieht ihrem Klimt-Porträt erstaunlich ähnlich, die Zwillinge zu ihren Seiten tragen gleiche Kleider und sind auf die gleiche Art frisiert. Hermines Zuneigung zu ihnen wird dadurch unterstrichen, dass sie ihren Kopf auf den Käthes legt, die sich ebenfalls ein wenig zu ihr neigt, ein leichtes, entzücktes Lächeln auf dem Gesicht, während Lene sich ebenfalls der Mitte zuwendet, ihre
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