Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
Vom Netzwerk:
nur an den Tod von Moriz und Nathan dachte, wegen Österreichs Niederlage im Krieg, dem Ende der Monarchie und dem Tod von Klimt und Schiele, die Wiens künstlerische Hochphase beendeten, weitreichendere Bedeutung hatte. 1918 betrachtete sie als »Das Unglücksjahr«.

Sex
    SCHON VOR MORIZ’ Krankheit war Gretl unglücklich und sehr neidisch auf ihre Geschwister gewesen. Erni stand meist bei seinem Regiment, doch wenn er in Wien war, verbrachte er die Zeit meist in der Firma Johann Timmels Witwe und ging abends so gut wie immer aus. Und Käthe und Lene gehörten zur ersten Generation österreichischer Frauen, die die Universität besuchten. Beide hatten von den neuen Bildungsmöglichkeiten für Wiener Mädchen profitiert, die es ihnen erlaubten, an einem Gymnasium zu maturieren, und studierten nun Chemie. Gretl hingegen wartete immer noch auf eine Heirat, hatte keine Aussichten und wegen des Krieges weniger Möglichkeiten, in Gesellschaft zu gehen. Regelmäßig notierte sie ihr Gewicht, da sie nun Gymnastik betrieb, und das mit einiger Wirkung.
    Zwei ihrer interessantesten Einladungen gaben ihr die seltene Gelegenheit, sich in der ersten Wiener Gesellschaft zu bewegen. Die eine war ein Nachmittagstee, bei dem beinahe alle Frauen »Exzellenzen« waren; Gretl nahm an – ganz sicher war sie sich aber nicht –, eine sei sogar eine Nichte des Kaisers gewesen. Die andere Einladung erging zu einem Abendessen mit 28 Personen, wo, wie Gretl mit Erstaunen berichtete, die Hofräte das geringste Renommee besaßen; alle anderen waren entweder »Vons« oder sonstige Adelige, und alle schenkten ihr außerordentliche Beachtung, weil sie außer Maria Mayen, einem Star vom Hofburgtheater, die einzig anwesende junge Frau war.
    Einen Verehrer hatte sie immerhin, Fritz Bunzl, einen Verwandten von Guido Hamburgers Frau Nelly. Nach einer Begegnung 1910 hatte ihn Gretl als ekelhaft beschrieben. Als er aber nach der Auflösung ihrer Verlobung mit Norbert etliche Male in die Wohllebengasse gekommen war, hielt sie ihn für viel netter und spürte sofort sein Interesse. »Fritz möcht’ gern, aber er kann nicht oder besser traut sich noch nicht«, bemerkte sie. Er wurde kühner, und sie flirtete gerne mit ihm, hielt ihn aber für zu eingebildet, wusste, dass er ihren Eltern auf die Nerven ging, und hatte seine Absichten in Verdacht. »Ich darf nicht und will mich auch nicht wegen Vaters Geld heiraten lassen!«, meinte sie.
    Vernarrt war sie in einen Einzigen, in Carl Lafite, der etliche wichtige Positionen im Wiener Musikleben bekleidete: Er war Dirigent an der Singakademie und im Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde und Klavierbegleiter berühmter Sänger, musste aber trotzdem sein Einkommen aufbessern, indem er Privatschüler unterrichtete und bei Gesellschaften auftrat. Gretl lernte Lafite 1916 bei einem Abendessen kennen, das die Eltern ihrer besten Freundin Lili Pollak gaben; er hatte einige der Gäste beim Singen begleitet. Nachdem Gretl zweimal die Gelegenheit ergriffen hatte, ihr Lieblingslied, Schumanns »Hidalgo«, mit Lafites Begleitung zu singen, erklärte sie, das sei der schönste Abend seit Kriegsbeginn gewesen – als hätte Norbert nie existiert.
    Einige Zeit später prüfte Lafite ihre Stimme und fand sie wert, sich weiter damit zu befassen. Nach sechs Sitzungen war er sich sicher, sie sei entwicklungsfähig. Bald hatte Gretl ihre ersten Stimmübungen absolviert und dann ihr erstes Lied gemeistert; wie nie zuvor versenkte sie sich in die Musik. Einige Monate später scheint er in ihrem Tagebuch nicht mehr als »Professor Lafite« auf, sondern als »La«. Nachdem er zum Abendessen in die Wohllebengasse gekommen war, konnte sich Gretl kaum halten; er war »so reizend«, »einfach wonnig«, »so goldig«. Sie sei berauscht von ihm, schrieb sie, ein Gefühl, das sie während ihrer Verlobung mit Norbert nie empfunden hatte. »Es war«, hieß es, »wie wenn ich zu viel Wein getrunken hätte.«
    Und so ging es weiter. Als Gretl ihn zum ersten Mal im Musikverein spielen hörte – er begleitete den deutschen Bass Paul Bender –, kam es ihr so vor, als habe Lafite Augen nur für sie, als sie den Zuschauerraum betrat. »Er schaute mich so lieb an«, hielt sie fest, und erklärte, dieses Konzert habe sie in dieser Saison am meisten genossen. Nachdem sie noch einmal Lafite Bender begleiten hatte hören, konnte sie nur noch schluchzen. Und als sie ihm in einem anderen Konzert begegnet war, bemerkte sie: »Wäre nicht der La

Weitere Kostenlose Bücher