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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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sie Gudrun gemeinsam in Bruntál großziehen könnten. Ausschlaggebend war Ottos Abhängigkeit von Hermines Vermögen. Nachdem das Familienunternehmen Hamburger während des wirtschaftlichen Chaos nach Kriegsende Teile seiner Produktion stillgelegt und Otto allmählich über seine Verhältnisse zu leben begonnen hatte, übte Hermine als Gegenleistung für finanzielle Unterstützung zunehmenden Druck aus. Pflichtgemäß heiratete er also Dagmar und holte Gudrun nach Bruntál; Dagmars Mutter allerdings blieb, wo sie war. Hermine wusste, dass sie die Schande für die Hamburgers noch vergrößern würde, hätte man noch weitere Hinweise geliefert, welch unvorteilhafte Ehe Otto eingegangen war.
    Hermine konnte weder vergeben noch vergessen, was geschehen war, doch ließ sie das eher Dagmar und Gudrun spüren als Otto. So wie sie Dagmar nie als vollwertiges Familienmitglied behandelte, so akzeptierte sie auch Gudrun nicht und betrachtete sie immer als durch die Umstände ihrer Geburt und die frühere Stellung ihrer Mutter als Haushälterin befleckt. Wenn Hermine in der Wohllebengasse Gudrun bestrafte, weil sie sich schlecht benommen hatte, nutzte sie die Unterscheidung in ihrem Haushalt zwischen Oben und Unten und schickte sie nach unten zur Dienerschaft.
    Gretl verletzte die Konvention viel schwerer als ihr Onkel. Wie bei ihrer Verlobung mit Norbert Stern notierte sie auch diesmal ausführlich das Geschehene in ihrem Tagebuch. Ihre Einträge, die beschrieben, wie es kam, dass sie vor der Ehe mit einem Mann geschlafen hatte, waren der Hauptgrund dafür, dass sie Anne anwies, die Tagebücher nach ihrem Tod zu beseitigen. Sie waren auch der Grund, warum Anne bloß Gretls erste drei Tagebücher behielt und die folgenden vernichtete. Die Affäre mit Dr. Erich Schiller war jene Episode in Gretls Leben, für die sie sich am meisten schämte. Besonders verstört wäre sie gewesen, hätte sie gewusst, dass einer ihrer Enkel, dem sie beigebracht hatte, ein »kleiner Gentleman« zu sein, sie aufdecken würde.
    Die einzig noch existierenden Berichte über Gretls Affäre hatte Anne geschrieben, die sonst nichts über Schiller wusste. Ihre Schilderung folgt dem Klischee vom erfahrenen Mann und der unschuldigen Frau, dem raubtierhaften Mann und der verletzlichen Frau, den Männern, die nur Sex wollen, und den Frauen, die ihnen den Gefallen tun. In einem frühen Entwurf ihrer Geschichte schrieb Anne, Schiller »lockte Gretl in seine Wohnung und verführte sie«. In der Letztversion schmückte sie das aus: »Schiller scheint sie verführt zu haben, indem er ihr versprach, sie zu heiraten. (Wahrscheinlich konnte man während der Trauerzeit keine Verlobung bekannt geben, und die Trauerzeit für einen Vater dauerte ein Jahr.) Ich könnte mir vorstellen, dass er ihr gegenüber andeutete, mehr als ein Jahr zu warten sei sehr schmerzhaft für ihn. Da sie ihn liebte, gab sie nach. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte – ich weiß nicht, wie lange die Affäre dauerte –, erklärte er, sie sei liederlich, und er wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben. Tatsächlich hätte sie eine exzellente Ehefrau abgegeben, sie war eben bloß völlig unerfahren und nicht auf das Leben vorbereitet.«
    Die offizielle Trauerzeit war möglicherweise nicht das Hindernis, wie Anne es andeutete. Da Gretls Beziehung zu Schiller sich in der ersten Hälfte 1919 entwickelt zu haben scheint, hätten die beiden bloß bis August warten müssen, um sich zu verloben und kurz darauf heiraten zu können. Doch Moriz’ Tod hatte mit großer Wahrscheinlichkeit Auswirkungen auf das, was geschah, da er Gretl noch verletzbarer und sprunghafter machte als sonst, und das vor allem deshalb, weil die Familie so intensiv um Moriz trauerte. Nach Gretls Bericht begingen sie Weihnachten 1918 dadurch, dass sie sechsmal an zehn Tagen sein Grab besuchten.
    Gretl mag auch nicht so unwissend in Sachen Sex gewesen sein, wie Anne andeutete. In einem 1905 gehaltenen Vortrag hielt es Hermines Freundin Elisabeth Luzzatto für selbstverständlich, dass Frauen der Zukunft die physische Seite der Ehe vollkommen verstehen würden. Bei einer Konferenz 1906, bei der sie den Vorsitz führte, erklärte die Vortragende, es sei weit besser für Kinder – Mädchen wie Jungen –, einen ordentlichen Sexualunterricht zu erhalten, statt auf der Straße, durch Dienstboten oder verbotene Bücher mehr oder minder schlecht aufgeklärt zu werden. Wedekinds »Frühlings Erwachen«, das Hermine und Moriz 1908 gesehen

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