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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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gewesen, ich hätte vor Enttäuschung geweint!« Sie sah ihn auch bei den Pollaks und erklärte: »Er ist so ein lieber, guter, feiner, nobler Mensch«; genau so hatte sie Norbert nach dem Kennenlernen bezeichnet. »Gott, war das gestern ein Abend!«, rief sie aus.
    Die Beziehung zwischen einem berühmten Musiker und seinen Schülerinnen war das Thema von Hermann Bahrs Komödie »Das Konzert«, die Moriz und Hermine 1910 gesehen hatten. Sie beginnt damit, dass der Klaviervirtuose Gustav Heink mit einer seiner Schülerinnen ein ehebrecherisches Wochenende verbringen will und damit die anderen Schülerinnen beinahe in die Hysterie treibt; sie sind nicht nur vor Neid zerrissen, sondern auch schockiert, dass er, gerade erst ein Jahr verheiratet, eine Affäre beginnt. Heink aber nimmt an, eine solche Vergötterung – und der Ehebruch – stünden ihm, der musikalischen Berühmtheit, zu. Seine Schülerin bildet sich ein, er sei die Liebe ihres Lebens. Seine Frau hat seine Affäre zwar anfangs hingenommen, um den Hausfrieden zu wahren, doch schließlich setzt sie der Sache ein Ende.
    Gretl war es gewohnt, über Musik und Musiker in Ekstase zu geraten. Als sie im Februar 1916 erstmals mit der Musik von Arnold Schönberg in Berührung kam, einen Monat, bevor sie Lafite kennenlernte, war sie wie üblich ganz außer sich. Es war eine Aufführung von Schönbergs erstem größerem Werk, der 1899 entstandenen »Verklärten Nacht«, das anfangs wegen seiner Dissonanzen einen Skandal ausgelöst hatte, verglichen mit Schönbergs Zwölftonmusik aber bald konservativ wirkte. Obwohl man meist Schönberg und Klimt zwei gegensätzlichen modernen Strömungen in Wien zurechnet – so setzte sich Karl Kraus etwa für Schönberg ein, während er für Klimt nur Spott übrighatte –, sind Schönbergs Frühwerke gelegentlich mit Klimt-Gemälden verglichen worden. Nach einer Aufführung durch das führende Wiener Streichquartett, das Rosé-Quartett, verkündete Gretl in ihrem Tagebuch: »Schönberg ist für mich der Klimt des Musik, die ›Verklärte Nacht‹ für mich der Kuss von Klimt. Hoch Roséquartett! Hoch Arnold Schönberg!«
    Ein weiteres Konzert des Rosé-Quartetts eine Woche später veranlasste Gretl dazu, ihre Gefühle vor dem gesamten Publikum im Großen Saal des Musikvereins zum Ausdruck zu bringen. Wie sie es beschrieb, sah sie sich plötzlich auf der Bühne stehen, sie hielt eine rote Tulpe, die man ihr zufällig am selben Tag geschenkt hatte, und drückte sie dem Cellisten Friedrich Buxbaum in die Hand. Zwar genierte sie sich für ihre Aktion, fand aber trotzdem das Erlebnis »zu schön«.
    Gretl sagte sich, ihre Vernarrtheit in Lafite sei eine Steigerung dieses »Musikrausches«, und sie hielt sie für harmlos, war er doch doppelt so alt wie sie und hatte kurz zuvor eine der führenden Wiener Journalistinnen, Helene Tuschak, eine Vorkämpferin der österreichischen Frauenbewegung, geheiratet. Als Gretl ihr in der Pause eines von Lafites Spätnachmittagskonzerten – das erste Konzert, vermerkte Gretl begeistert, das sie allein besucht hatte – begegnete, unterhielten die beiden sich freundschaftlich. Lafite selbst sprach beim zweiten Abendessen bei den Pollaks wie eine Vaterfigur zu Gretl, die keine Absichten auf sie habe. »Er glaubt von mir, dass ich einmal eine sehr gute Frau sein werde«, berichtete sie; »nur muss ich den Rechten treffen.«
    Doch sie war sich sicher, dass Lafite nur für sie Augen habe, selbst wenn Helene bei ihm war, und seine Reaktion, als sie einander bei einer weiteren Abendeinladung sahen, bestätigte sein Interesse. Helene Tuschak war beim ersten Teil des Abends anwesend gewesen, dann aber gegangen, bevor das Zusammensein um drei Uhr früh zu Ende war, und Gretl musste nachhause gebracht werden. Sie berichtete, Lafite sei sehr verärgert gewesen, als ein anderer verheirateter Mann angeboten habe, sie zu begleiten, habe alle möglichen Ausreden gebraucht und Erfolg gehabt, obwohl sie nicht allein blieben: Eine Nichte der Gastgeberin eskortierte sie, von der 21-jährigen Gretl als »alte Maid« abgetan.
    Ihr aufregendster Abend im Jahr 1918 war ein von ihrer Tante Ida und Onkel Adolf vor Moriz’ Krankheit gegebenes Abendessen. Gretl trug ihr rotes Kleid. Hauptattraktion war der Flieger Rittmeister Fix, Mitglied der kleinen k.u.k. Luftfahrttruppen, für die es schwieriger war, ihre Mannschaft als ihre Flugzeuge zu ersetzen, da sie jedes Jahr sämtliche Offiziere verloren hatte. Gretl beschrieb Fix,

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