Wokini oder die Suche nach dem verborgen Glück
– so als würden unbekannte Kräfte ihn dazu zwingen. Der Tee zeigte seine Wirkung; David besann sich immer weniger auf sich selbst, aber das machte ihm keine Angst. Er wusste, was dies bedeutete.
Er wurde zum Schatten des Mannes, zum Schatten von dessen Leben und Wissen. Dies war der indianische Weg zur Weisheit und David besaß genügend Weitsicht, um die damit einhergehenden Empfindungen und Gefühle nicht zu unterdrücken.
Er fuhr fort, die Bewegung des Mannes zu imitieren. David schloss die Augen in genau dem Augenblick, als der Mann sie schloss, und lauschte den leisen Geräuschen der Natur. Ein Wolf heulte in der Ferne, ein Blatt rauschte im Wind, ein Adler schlug mit den Flügeln; diese Laute drangen an sein Ohr. In Gedanken verwandelte sich David in den Wolf, das Blatt, den Adler. Er trieb körperlos durch den Raum und vereinte sich mit der Natur. Er fühlte den Frieden und die Ruhe im Kreislauf der Schöpfung, der alles mit allem verbindet. David hatte von solchen Gefühlen gehört, sie aber noch nie am eigenen Leibe erfahren. Zum ersten Mal war er verbunden mit der umfassenden Wahrheit und Schönheit der Natur. Der Mann begann leise zu singen. David verstand die Worte nicht – er war nicht mehr Mensch. Er befand sich jenseits der Grenzen menschlicher Existenz, war alles zugleich. Er lauschte dem melodischen und friedlichen Gesang, der eine magische Wirkung entfaltete. David spürte, wie er dessen hypnotischer Macht erlag. Singen.
Singen.
David vergaß sich völlig. Er war nicht länger Wolf, Blatt und Adler, sondern etwas Starkes und Unbekanntes. Er war leer, doch ohne Furcht. Er war eine tiefe Leere, die gefüllt werden musste. Dann erschien ein Schimmer, ein ferner Lichtpunkt. Er wurde heller, wuchs an und kam immer näher. Das Licht durchstrahlte die Finsternis und bald war alles ein einziges Gleißen, das ihn umhüllte. Singen.
Singen.
David ließ es bereitwillig geschehen, dass er sich in Licht verwandelte. Es löschte einen großen Durst, der ihm nie bewusst gewesen war. Das Licht erfüllte ihn mit Frieden, Ruhe und Wissen. Zunächst stellte sich dieses Wissen nur bruchstückhaft ein und er hatte Mühe, die Wahrheit zu erkennen. Doch nach wenigen Augenblicken nahm die Information Gestalt an und dadurch leuchtete er heller. Das Licht war David und David war das Licht. Er wusste, dass er die eigentliche Bedeutung von Glück erfasst hatte. Nie war sie ihm so deutlich gewesen. Das begriff er in seinem tiefsten Innern.
David öffnete die Augen und sah sich selbst. Er hatte sich in den Mann verwandelt, hatte den Kreislauf geschlossen. Er war der Lehrer, war Tunkasila, lebte im Herzen aller Wesen und Dinge. Singen.
Singen.
Er schloss die Augen noch einmal und wurde wieder zu David. Aber etwas vom Wissen des Mannes behielt er zurück – und einen Strahl des Lichts. Jetzt kannte er die Bedeutung des zweiten Bildes. Der Gesang endete.
David betrachtete die Rolle. Das zweite Bild zeigte einen Mann, der zur Sonne schaut und deren Bild in den Sand malt. Es versinnbildlichte die Einsicht. Ehe ein Mensch finden kann, muss er wissen, was er sucht. Das Ziel muss ganz klar sein, sonst steht man am Schluss wieder am Anfang und ist kein bisschen schlauer als zuvor. David erkannte, dass das Glück eine eigene Welt darstellt – eine Welt, die in jedem von uns entdeckt werden kann. Es ist ein Gefühl, das aus dem Herzen kommt und mit bloßen Worten oder Sätzen nicht zu erklären ist. Und weil dieses Gefühl etwas Inneres ist, kann nichts
Äußerliches einen Menschen glücklich machen. Externe Heilmittel für das Glück gleichen den faulen Tricks von Iktumi. Eben das war die Botschaft des Lichts, das David in seiner Vision erblickt hatte. Wenn das Licht außen war, fühlte er sich leer, und wenn es von innen kam, empfand er Frieden. Glück war also einfach ein Geisteszustand, den man völlig kontrollieren kann – ob alles reibungslos läuft oder nicht. Und entgegen seinen früheren Überzeugungen wusste David jetzt, dass die Welt des Glücks all denen offen steht, die in sie eintreten möchten, und dass sie ein unverlierbarer Bestandteil des eigenen Lebens sein kann.
Die Wahrheit war schlicht und wunderbar. David dachte lange über deren geheimen Sinn nach. Der Mann fragte: »Hast du die Bedeutung des zweiten Bildes herausgefunden?«
David hielt kurz inne. »Ja, ich glaube schon. Sie ist vielfältig, aber die einzelnen Aspekte sind miteinander verbunden. Sobald ich über seine Bedeutung sinniere, merke
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