Wolf Shadow Bd. 2 - Magische Versuchung
Erwachens umfingen sie noch Traumreste … dichtes Fell unter ihrer Hand, Fell, das warm war von einem starken Körper. Da war auch ein Gefühl des körperlichen Wohlbefindens gewesen. Und ein Ziel, ein Ort, den sie erreichen musste. Sie hatte zu Fuß gehen müssen, um dorthin zu gelangen. Das hatte sie gerade getan, als sie aus dem Schlaf gerissen worden war. Sie war gelaufen.
In ihrem Traum war sie nicht allein gewesen. Hier war sie es.
Es war noch früh. Graues Tageslicht, das durch das einzige Fenster fiel, erhellte den Raum nur wenig, aber sie konnte erkennen, dass hier keine Gefahr lauerte. Der Raum war vollständig leer und wirkte so künstlich und leblos wie das Bühnenbild einer leeren Bühne.
So leer, wie sie sich fühlte. Als habe man sie etwas Lebensnotwendigen beraubt. Etwas, das sie nicht benennen konnte.
Lily schloss die Augen und wartete darauf, dass der Adrenalinschub abklang und ihr Herz wieder gleichmäßig schlug. Sie war allein mit dem Gefühl von Taubheit, das wie wilder Wein in dem leeren, toten Raum in ihrem Inneren wucherte. Der Raum, in dem ihre Gabe gewesen war.
Großmutter, du hast gesagt, es könne nicht passieren. Dass ich immer eine Sensitive sein würde. Auf einmal hatte sie Sehnsucht nach ihrer Großmutter, so wie ein Kind, das aus einem Alptraum erwacht und laut im Dunkeln ruft. Sie wollte in den Arm genommen werden. Sie wollte, dass ihr jemand erklärte, was mit ihr passiert war, auch wenn es nicht geändert werden konnte.
Sie würde nicht bekommen, was sie wollte. Das zweite Mal an diesem Tag öffnete Lily die Augen, obwohl sie sie lieber fest geschlossen gehalten hätte.
Rule war verschwunden.
Verschwunden, rief sie sich in Erinnerung. Nicht tot.
Nach und nach, während das Licht draußen vor dem Fenster heller wurde, bekam der Raum Substanz, wurde real. Sie hatte ein Ziel, genau wie in ihrem Traum. Sie musste Rule finden. Wie, wusste sie nicht, noch, wo sie suchen, wen sie fragen sollte. Wer die einzelnen Teile zu dem Puzzle hatte, das ihr eine Antwort auf sein Verschwinden geben konnte. Aber sie würde auf ihren Traum hören: immer einen Schritt nach dem anderen tun.
Ihr erster Schritt war wörtlich zu verstehen. Sie musste aus dem Bett aufstehen.
Die beiden Hauptaufgaben von Haut bestanden darin, ansteckende Stoffe draußen und Körperflüssigkeiten drinnen zu halten. Großflächige Verbrennungen hinderten sie daran, diesen Aufgaben nachzukommen. Deshalb hatte man ihr Antibiotika gegeben und sie über Nacht im Krankenhaus behalten, um ihre Körperflüssigkeiten wieder aufzufüllen.
Die Infusion hatte ganze Arbeit geleistet. Sie stand beinahe unter Wasser.
In einem Bett, das Befehle befolgte, war es nicht schwer, sich aufzusetzen. Aber als sie sich drehen wollte, um von der Bettkante zu gleiten, spürte sie Schmerzen, die nicht nachließen, als sie aufstand, atmete … Sie würde wohl damit zurechtkommen müssen. Langsam schob sie sich auf das Badezimmer zu, ihren Infusionsständer hinter sich herziehend.
Vielleicht war das furchtbare Gefühl von Unwirklichkeit, mit dem sie aufgewacht war, eine Nebenwirkung der Schmerzmittel, die man ihr gestern Nacht verabreicht hatte. Aber sie hatte sie nötig gehabt. Bis man sie in ihr Zimmer gebracht hatte, war sie vor Schmerzen und Gefühlen so durch den Wind gewesen, dass sie nicht einmal mehr in der Lage gewesen war, Drei gewinnt zu spielen.
Aber jetzt war Schluss mit diesen Mätzchen. Sie musste nachdenken.
Außerdem würden sie ihr wohl kaum etwas Stärkeres als Ibuprofen geben. Sie würde bald entlassen. Es gab keinen Grund, sie noch länger hierzubehalten.
Lily tat, was sie konnte, um sich für den Tag, der vor ihr lag, bereitzumachen. Sie ging auf die Toilette, putzte sich mit der Krankenhauszahnbürste die Zähne und fuhr sich mit der Bürste aus ihrer Handtasche durch die Haare. Sie wusch sich Gesicht und Hände und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Dusche.
Selbst wenn man sie nicht davor gewarnt hätte, hätte sie jetzt keine Dusche genommen. Sie hatte nichts Sauberes, in das sie anschließend hätte schlüpfen können. Dazu musste sie jemanden anrufen … jemand anderen als ihre Mutter.
Lily starrte abwesend auf das winzige weiße Waschbecken, die Haarbürste immer noch fest mit der Hand umklammert. Worte schossen ihr durch den Kopf, Wortfetzen eines Dialoges. Dinge, die sie nicht gesagt hatte, obwohl sie es gern getan hätte.
Ohne Zweifel war die gestrige Nacht ein Alptraum für ihre Eltern gewesen –
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