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Wolf unter Wölfen

Wolf unter Wölfen

Titel: Wolf unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Fallada
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Stunde zu malen. Er hatte zwanzig Jahre Zeit gehabt, geduldig, ohne Klage krank zu sein, nun hatte er nicht eine Minute mehr Zeit! Das ganze Leben wartete draußen auf ihn, mit einem Wirbel von Festlichkeiten, eine strahlender als die andere, mit Hunderten von Menschen, mit denen es herrlich war zu reden – mit schönen Frauen, mit jungen Mädchen, die so betörend jung waren, daß es einen über den Rücken rieselte, sah man sie nur an …
    Und war er selbst etwa nicht jung –? Er war fünfundzwanzig; was dann gekommen war, zählte nicht, es war nur Warten gewesen. Er war jung, das Leben war jung, fasse, halte, koste die Frucht – halte ein, halte doch ein! Weiter …
    Malen –? Jawohl, ja, es hatte ihm geholfen, es war ein angenehmer Zeitvertreib gewesen. Jetzt brauchte nichts mehr die zähe, lastende Zeit zu vertreiben – funkelnd, aus tausend Augen strahlend, Millionen Lieder jauchzend, jagte der Strom dahin – mit ihm, noch mit ihm, endlich wieder mit ihm!
    Manchmal, nachts, fuhr er auf, todmüde, kaum in den ersten, fieberischen Schlaf der Überwachen gesunken. Er stützte die glühende Schläfe in die heiße Hand. Er meinte die Zeit rauschen zu hören. Sie entrauschte. Er durfte nicht schlafen; wer durfte schlafen, da Zeit so rasch floß –? Schlaf hieß Versäumnis. Und leise, leise, sie nicht zu wecken, stand er auf, ging in die Stadt, ging noch einmal in die Stadt, wo die Lichter brannten. Er saß an einem Tisch, er sah atemlos in die Gesichter. Dieses dort –? Oder du –? Oh, entrausche nicht – halte doch ein!
    Sie ließ ihn gehen. Sie hörte ihn, aber sie ließ ihn gehen, tags wie nachts. Zu Anfang war sie mitgegangen, sie, deren Hoffnung nun erfüllt, deren Kampf noch siegreich geworden war. Sie sah ihn auf dem Gartenfest einer befreundeten Familie, auf einem Diner – untadelig gekleidet, schlank,rasch, fröhlich – mit grauem Haar, zwei messerscharfen, tiefen Falten von den Nasenflügeln über die Mundwinkel bis zum Kinn. Er tanzte, untadelig, mit einer Sicherheit, einer spielenden Vollendung – fünfundvierzig, sprach es in ihr. Er scherzte, plauderte, sprach – immer mit den Jüngsten, sah sie. Fast kam sie ein Schaudern an. War es nicht beinahe, als sei ein Toter lebendig geworden, als fordere ein Abgeschiedener Lebensspeise, in dessen Mund der Staub schon knirscht –? Halte doch ein! Das, was ihr eifersüchtiges, zorniges Herz am innigsten festgehalten, das, was ihr zwanzig Jahre hindurch Glücksbrot und Lebensspeise gewesen: die Erinnerung an ihre erste, festliche Zeit – zerging ihr nun. Sie konnte es nicht mehr halten.
    Die Nacht steht wie eine Wand um sie, ein enges Gefängnis, ohne Ausweg. Die Uhr auf dem Nachttisch tickt nutzlose Zeit weg, die durchwartet werden muß. Die zitternde Hand läßt das Licht aufleuchten – und von den Wänden grüßen sie seine hellen, eiligen Bilder.
    Sie blickt sie an, als sähe sie diese Bilder zum erstenmal. Sie ist wie die Welt draußen, die in dieser Zeit auch anfängt vor seinen Bildern stillezustehen, sie zu sehen. Plötzlich ist die Zeit dieser Bilder gekommen – aber für ihren Schöpfer ist die Zeit vorüber. Widerspiel, Widerpart, Unsinn der Zeit, Widersinn – da er sein Werk schuf, zwanzig Jahre, unablässig, geduldig, milde, war er der einzige, der es sah. Nun kommt die Welt, mit Briefen und Abbildungen, mit Kunsthändlern und Ausstellungen, mit Geld, mit goldenem Lorbeer – aber seine Zeit verrann, er hat sie ausgeschöpft, der Brunnen ist leer …
    »Ja, Bilder …«, sagt er und geht.
    Die Frau, die sein Kind erwartet, liegt im Bett, und nun ist sie es, die auf die Bilder starrt. Nun ist sie es, die sein wahres Abbild in ihnen sieht. Seine Schnelle, seine Fröhlichkeit, sein milder Ernst – dahin! Dahin! Dahin –? Hier sind sie, gesteigert, mit einem Strahlenglanz, den die Ewigkeit dem Leben leiht.
    Da ist eines, kurz vor seiner »Genesung« gemalt, das letzte fertiggestellte, ehe er den Pinsel fortlegte. Er ließ sie sich an ein Fenster setzen, das Fenster war offen, sie saß starr und still da wie kaum je in ihrem tätigen Leben. Es ist ihr Bild, sie ist es, da sie noch bei ihm war, von ihm gemalt, als sie ihm noch etwas galt. Nichts weiter: eine junge Frau am Fenster, wartend, vielleicht wartend, draußen rauscht die Welt. Junge Frau am Fenster, sie – sein schönstes Bild!
    Von ihm gemalt, da er noch bei dir war. Wo ist er jetzt? Der Morgen ist in der rauschenden Welt, strahlend, voller Sonnenglanz (aber dir wird die

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