Wolf unter Wölfen
kommen!
Ärgerlich klappte sie das Buch zu. Mitnehmen in die Ferien? Kommt ja gar nicht in Frage! Daß ich mich ewig ärgern muß! Darum lassen sie das Dings hier auch so offen liegen – keine Nachfrage danach!
Sie schaltete das Licht aus, sie lag im Dunkeln.
Ihr Ärger verging, aber es war zu warm unter der Decke, die Luft hinter den geschlossenen Fenstern war zu drückend. Sie stand auf und öffnete sie. Sie hörte die Bahnen klingeln; immer wenn sie in die Krausenstraße einbogen, klingelten sie. Sie hörte die Schritte der Fußgänger, mal vereinzelt, sehr laut – mal viele, ein verworrenes, vielfältiges Geräusch. Die Autos kamen und gingen, sie surrten und hupten, sie eilten weiter …
Jetzt fing ihr Körper an zu jucken; sie kratzte sich hier, sie kratzte sich da. Sie warf sich her, sie warf sich hin. Dann zwang sie sich, ruhig zu liegen; sie nahm ihre Einschlafestellung ein: auf der rechten Seite, unter der rechten Backe beide Hände. Sie schloß die Augen. Der Schlaf war ganz nahe.
Aber gleich fiel ihr ein, daß sie durstig war; und sie mußte hoch und ein Glas Wasser trinken, das schal schmeckte. Sielag wieder und wartete auf Schlaf. Aber es gab keinen Schlaf für sie, es schien überhaupt keinen Schlaf mehr für sie geben zu sollen. Umsonst stellte sie sich vor, wie müde sie heute früh in ihrer Kammer gewesen war, in dem zerdrückten Kleid, der Mund fade von all den Likören, die Füße brennend – wie sie mit dem Schlaf gekämpft hatte, als sie sich die paar Zeilen an den Hans abrang, während in ihrem Rücken die Köchin, das Trampel, schnarchte. Umsonst, es kam kein Schlaf. Sie fing an, bis hundert zu zählen.
So wie sie lagen Tausende in ihren Betten, gejagt, ruhelos. Es waren die, deren letztes Geld ausgegeben war. Es waren die, die im Kater des Morgens geschworen hatten, nie wieder auszugehen, gründlich zu schlafen, Nacht für Nacht. Es waren die, die der ewigen Jagd müde geworden waren, die es aufgegeben hatten, Nacht für Nacht nach etwas zu suchen, dessen Namen sie nicht einmal wußten. Wie Sophie Kowalewski wälzten sie sich ruhelos in ihren Betten. Es war nicht der Durst nach Alkohol, nicht das Verlangen nach Umarmungen, was sie wach hielt, schließlich wieder hochtrieb. Sie konnten weder allein sein, noch konnten sie ruhen. Die Schwärze ihres Zimmers gemahnte sie an den Tod. Sie hatten genug vom Tode gehört und gesehen, vier Jahre war draußen und drinnen immerzu gestorben worden. Sie starben noch früh genug – viel zu früh starben sie. Aber jetzt lebten sie noch, und so wollten sie denn auch leben!
Wie die andern steht auch Sophie Kowalewski auf, zieht sich eilig an, als hätte sie die dringendste Verabredung, als dürfe sie etwas sehr Wichtiges um keinen Preis versäumen. Sie geht rasch die Treppe hinunter und tritt auf die Straße.
Wohin soll sie gehen? Sie sieht die Straße auf und ab. Es ist eigentlich gleichgültig, wohin sie geht. Innen weiß sie: überall ist es dasselbe. Aber sie erinnert sich, daß sie sich einmal die Lokale der Innenstadt ansehen wollte. So geht sie langsam (plötzlich, da sie unter Menschen ist, hat sie viel Zeit) auf die Innenstadt zu.
9
Ein langer, geruhiger Spaziergang durch den Tiergarten hatte dem ehemaligen Empfangschef von Studmann den Kopf wieder frei gemacht. Er hatte auch dem Rittmeister von Prackwitz Gelegenheit gegeben, dem Freunde ein Bild von Neulohe zu malen, wie es weit hinten in der Neumark lag, fast schon polnische Grenze, ganz von Wäldern eingezirkelt. Prackwitz hatte dabei nicht die Absicht, Neulohe rosiger zu schildern, als es war, er wollte den Freund nicht täuschen. Aber ganz von selbst ergab es sich, daß inmitten dieser taumelnden, verdorbenen, irren Stadt Rittergut Neulohe stiller und reiner aufstieg, jedes Gesicht bekannt, jeder Mensch letzten Endes übersichtlich – und weder Gewächs noch Getier vom Taumel der Zeiten angesteckt.
Von Prackwitz hatte es leicht, angesichts der unten mit marmornen Ladenausbauten, Leuchtschildern, Bildreklamen grell aufgeschminkten, oben aber zerbröckelnden und zerfallenden Häuserfassaden zu sagen: »Meine Gebäude sehen gottlob noch etwas anders aus! Nicht schön, aber solider, unverlogener, roter Backstein.«
Wenn sie die verbrannten Rasenflächen, die verunkrauteten Beete des Tiergartens sahen, für deren Pflege kein Geld mehr da war (soviel Geld es auch gab), konnte er sagen: »Wir hatten es auch sehr trocken. Aber eine recht gute Ernte ist trotzdem gewachsen.
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