Wolf unter Wölfen
Volke …«, sagte von Prackwitz.
»Mir hat«, fuhr von Studmann fort, »der heutige Nachmittag die Augen geöffnet. – Wenn ich wirklich zu dir ginge, Prackwitz, müßte ich richtige Arbeit haben. Arbeit, verstehst du!«
Von Prackwitz zermarterte sich den Kopf.
Pferde zureiten, dachte er. Aber meine paar Kröpels haben schon jetzt mehr Bewegung, als ihnen lieb ist. – Schreiberei auf dem Büro? Aber ich kann Studmann doch nicht hinter die Lohnlisten setzen!
Er sah plötzlich das Gutsbüro vor sich mit dem grüngestrichenen, altmodischen Geldschrank, dessen Größe in keinem Verhältnis zu seinem Inhalt stand, die häßlichen Fichtenregale voll veralteter Gesetzsammlungen –: Eine widerlich verstaubte und verlotterte Bude, dachte er.
Von Studmann war viel praktischer als der Rittmeister. »Soviel ich weiß«, half er ihm, »gibt es auf vielen Rittergütern Volontäre?«
»Die gibt es!« bestätigte Prackwitz. »Eine schreckliche Gesellschaft! Sie zahlen Pension – sonst würde sie niemand nehmen –, halten sich ihr eigenes Reitpferd, stecken ihre Nase in alles, verstehen nichts, fassen nichts an, können aber enorm klug über Landwirtschaft reden!«
»Also nicht«, entschied von Studmann. »Und was gibt es sonst?«
»Mancherlei. Zum Beispiel Hofverwalter, die das Futter ausgeben, Füttern und Melken und Putzen beaufsichtigen, Lagerbücher führen, an der Dreschmaschine Dienst tun. Dann gibt es Feldverwalter, die draußen sind, Pflügen und Düngen und Ernten anordnen, eben alle Feldarbeiten, überall sein müssen …«
»Reitpferd –?« fragte von Studmann.
»Fahrrad«, antwortete von Prackwitz. »Wenigstens bei mir.«
»Du hast also einen Feldinspektor?«
»Morgen setze ich ihn raus, einen faulen, versoffenen Kerl!«
»Aber doch nicht meinetwegen, Prackwitz! Ich kann bei dir doch nicht gleich Feldinspektor werden! Du sagst: ›Studmann,dünge mir da diesen Roggen.‹ Verdammt noch mal, es sollte mir sauer werden, ich habe doch nicht den geringsten Schimmer – außer von natürlicher Düngung, die unzureichend wäre, fürchte ich.«
Die beiden Herren lachten herzhaft. Sie standen von ihrer Bank auf, von Studmanns Brummschädel war fort, Prackwitz war sicher, der Freund werde zu ihm kommen. Sie besprachen im Weitergehen das Projekt länger, sehr eingehend. Sie einigten sich dahin, daß von Studmann als ein Mittelding zwischen Lehrling, Vertrauensperson und Aufsichtsbeamter nach Neulohe kommen sollte.
»Du fährst gleich morgen früh mit, Studmann. Deine Sachen hast du in einer halben Stunde gepackt, wie ich dich kenne. – Nun müßte ich noch einen vernünftigen Kerl kriegen, der die Leute beaufsichtigen und ein bißchen antreiben kann, die ich heute engagiert habe – und die Ernte ginge prima! Ach Gott, Studmann, bin ich froh! Die erste frohe Stunde, ich weiß nicht, seit wie lange! Höre mal, jetzt essen wir irgendwo nett, das wird dir guttun, nach der elenden Sauferei. Was meinst du zu Lutter und Wegner? Schön! – Nun noch einen Mann, am besten auch vom Kommiß, gewesener Spieß oder so was, der mit Leuten umgehen kann …«
Sie gingen bei Lutter und Wegner in den Keller. Der Mann vom Kommiß, den der Rittmeister von Prackwitz brauchte, saß an einem Ecktischchen. Er war zwar nicht Spieß, aber doch Fahnenjunker gewesen. Zur Zeit war er ziemlich betrunken.
10
»Aber das ist ja Fahnenjunker Pagel!«
»Da sitzt ja Granaten-Pagel!«
Dies riefen von Studmann und von Prackwitz.
Und sofort stand ihnen beiden mit fast gespenstischer Klarheit eine Szene vor Augen, die ihnen unter den vielen Gestalten des Weltkriegs ebendiesen Pagel unvergeßlich gemachthatte. Das heißt, es war nicht mehr der Weltkrieg gewesen, sondern jener letzte, verzweifelte Versuch deutscher Truppen, das Baltikum gegen den Ansturm der Roten zu halten. Es war im Frühjahr 1919 gewesen, es war jener wilde Angriff der Deutschen, Balten und Letten gewesen, der schließlich Riga befreite.
In der bunt zusammengewürfelten Abteilung des Rittmeisters von Prackwitz war damals auch der junge Pagel gewesen, kaum älter aussehend als ein großer Schuljunge. Vielleicht wirklich schon siebzehn, wahrscheinlicher erst sechzehn Jahre alt, aus der Kadettenanstalt Groß-Lichterfelde herausgesetzt, er, der für die Offizierslaufbahn bestimmt gewesen war, in eine tobende, zerkämpfte Welt gestoßen, die von Offizieren nichts mehr wissen wollte. Da hatte es sich von selbst ergeben, daß der Entwurzelte, sinnlos Gewordene immer weiter nach
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