Wolf unter Wölfen
– Aber sie haben die Arme hochgenommen, über das nächtliche Feld verstreut, steht die Schattenschar, ihre Hände reichen in den Sternenhimmel.
Ich muß brüllen, so laut ich kann, denkt Pagel, fieberhaft erregt, damit die auf ihrem Weizenschlag hören, ich brauche Hilfe! Wenn sie nur schnell genug kommen –!
Und er brüllt einen Mann hinten an, den es gar nicht gibt, wenn er noch einmal die Hand runternähme, hätte er seinen Schuß weg. Dabei hält er das silberne Etui so fest in der Hand, daß die scharfe Kante schmerzhaft in sein Fleisch schneidet. Die Leute, diese große Zahl Leute um den einen herum, stehen puppenhaft starr. Ihre unbewegte Haltung braucht nicht Ergebung in das Schicksal zu bedeuten, sie kann auch Drohung sein. Manchmal überkommt ihn die völlige Hilflosigkeit seiner Lage: er hier vor dreißig Leuten mit einem lächerlichen Etui in der Hand. Es braucht nur einer aufzumucken, und schon sind sie alle über ihn her. Nicht vor dem Totgeschlagenwerden hat er Angst: Aber sie werden mich verprügeln, die Weiber werden mir die Haare ausreißen, ich bin lächerlich geworden, ich kann mich nicht wieder im Dorf sehen lassen …
Wieviel Zeit vergeht? Sind es Sekunden, die langsam ablaufen, Minuten? Wie lange steht er hier schon, mit erprahlter Macht inmitten von Machtlosen, die sich nur auf ihre Macht zu besinnen brauchen, um ihn zu demütigen –? Er weiß es nicht, die Zeit wird so lang, er schreit nicht mehr, er horcht: Kommen sie noch immer nicht?
Jemand räuspert sich, einer bewegt sich. Der mit dem Baß, ganz in Pagels Nähe, sagt: »Na, Herr, wie lange sollen wir so noch stehen? Meine Arme tun schon weh. Was soll denn daraus werden –?«
»Wollen Sie wohl stille sein!« schreit Pagel. »Sie haben ganz stille zu stehen, sonst kriegen Sie eine Kugel!«
Er muß immer davon reden. Da er nicht einmal einen Schreckschuß abgeben kann, muß er sie doch mit Worten von seiner Gefährlichkeit überzeugen!
Aber nun kommt die Erlösung! Über die Roggenstoppel läuft Studmann, in weiterem Abstand folgt Kowalewski.
Atemlos, als sei er es, der so hastig gelaufen ist, ruft Pagel: »Schießen Sie! Um Gottes willen, Studmann, schießen Sie einmal in die Luft, damit die Bande sieht, daß wir auch schießen können! Ich stehe hier seit zehn Minuten mit meiner Zigarettenschachtel in der Hand …«
»Sehr gut, Pagel«, sagt Studmann – und ein Schuß, seltsam klein und trocken unter der Himmelsweite klingend, peitscht über die Köpfe der Leute weg.
Ein paar lachen. Der Baß sagt: »Paßt auf, die schmeißen mit Knallerbsen!«
Es lachen noch mehr.
»In Zweierreihen zusammenschließen!« ruft Studmann. »Die Kiepen auf den Rücken! Es wird auf den Hof gerückt, wo die Namen festgestellt werden. Dann kann jeder nach Haus gehen. – Pagel, Sie nehmen die Spitze, ich den Schluß. Den alten Kowalewski lassen wir am besten ganz draußen, er kann hinterherzotteln. – Hoffentlich parieren sie. Wir können doch nicht wegen ein paar Rübenblättern schießen!«
»Warum nicht?« fragt Pagel.
Die Rollen sind vertauscht. In Pagel zittert noch die Erregung des Abenteuers, die gefürchtete Niederlage – da er sich bedroht gefühlt hatte, sah er in den vermeintlichen Bedrohern schlimme Kerls, fast Verbrecher. Jede Maßnahme gegen sie schien ihm recht. Studmann, der gesehen hatte, wie sich dreißig Mann harmlos wie die Schafe von einem Zigarettenetui in Schach halten ließen, schloß daraus auf die Harmlosigkeit ihres Tuns. Alles war nur eine Lappalie.
Keiner von beiden, weder Studmann noch Pagel, hatte recht. Sicher waren die Altloher keine Verbrecher. Ebensosicher waren sie fest entschlossen, nicht zu hungern, sich ihre Nahrung zu holen, wo sie zu finden war, da sie nichts zu kaufen bekamen. Eine erste Überrumpelung nahmen sie fast mit Humor hin, bei einer zweiten konnten sie böse, bösartig werden.
Sie spüren ihren Hunger – und sahen das Riesengut, auf dem so unendlich viel wuchs. Der kleinste Bruchteil der Ernte, ein Eckchen vom Feld konnte ihren Hunger stillen, die ständig nagende Sorge zum Schweigen bringen. »Der Rittmeister merkt ja gar nicht, was so eine Ziege frißt«, sagten sie. – »Was kann ihm ein Sack Kartoffeln ausmachen? In diesem Frühjahr hat er Tausende von Zentnern erfrorene Kartoffeln in die Stärkefabrik gefahren!« – »Im vorigen Jahr haben sie den Roggen so naß eingebracht, daß sie ihn nicht dreschen konnten. Alles war verfault – sie haben’s nachher auf den Mist
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