Wolf unter Wölfen
Unternehmungslust der Ahnungslosen! Eine russische Fürstin, die seit acht Jahren bei mir weilt, die sich seit diesen acht Jahren schwanger glaubt und die seit acht Jahren einen Teich im Park umrundet, weil sie des Glaubens lebt, wenn sie zehnmal an einem Vormittage um diesen Teich herumginge, dann würde sie niederkommen – diese ausgezeichnet zahlende und völlig zufriedene Patientin von zweieinhalb Zentner Lebendgewicht hat er tatsächlich zehnmal um den Teich geschleppt, worauf sie zwar nicht nieder-, aber einen Herz- und Gemütskollaps bekam. Eine bildhübsche Schizophrene bat er um eine Locke, worauf sich das Mädchen ratzekahl geschoren hat – und der Besuch ihrer Angehörigen steht in Aussicht. Einen leider anormal veranlagten Herrn, der ihm Anträge machte, hat er mit Faustschlägen von seiner falschen Veranlagung zu heilen versucht. Dem auch Ihnen bekannten Reichsfreiherrn Baron von Bergen hat er in seiner Harmlosigkeit eine neue Flucht ermöglicht – kurz, Herr von Prackwitz hat mich Patienten gekostet, die monatlich etwa dreitausend Goldmark wert sind. So spreche ich: Bis hierher und nicht weiter! Ich habe ihm klargemacht, daß seine Anwesenheit in Neulohe zum ersten Oktober absolut notwendig ist (ich kenne natürlich alle seine Sorgen), und er hat dies auch eingesehen.
Wenn Sie, sehr verehrter Herr Studmann, Umstände durch seine Rückkunft haben sollten, so freue ich mich aufrichtig darüber. Denn ich nehme an, daß Sie dann um so eher zu mir kommen werden. Ihr usw. usw. –«
»Na also!« sagte Herr von Studmann seufzend, zündete langsam ein Streichholz an und ließ den Brief über dem Ofenblech in Flammen aufgehen. So ist er denn also wieder hier, um uns über den ersten Oktober fortzuhelfen. Es wird schon gehen, wenigstens scheint er jetzt nicht mehr so reizbar. Wenn er nur nicht zu schlimme Dummheiten macht –! Starker Geltungsdrang, aber geringe Intelligenz – bitter, doch ich werde es schon schaffen!
Herr von Studmann sollte sich irren, Herr von Prackwitz hatte an diesem Tage einige nicht wiedergutzumachende Dummheiten bereits
hinter
sich.
9
Als der Rittmeister von Prackwitz am Morgen dieses Tages mit aller Hast der letzten Minute in ein Abteil des Zuges Berlin–Frankfurt/Oder gestiegen war, hatte ihn eine Stimme sehr unwirsch empfangen: »Bitte um Entschuldigung, alles besetzt.«
Obwohl dieser Ausruf eine faustdicke Lüge war, denn von den acht Sitzplätzen im Abteil des nun schon in Fahrt befindlichen Zuges waren nur zwei besetzt, war der Rittmeister nicht wegen dieser Lüge so rot geworden. Sondern er starrte erkennend in das Gesicht des so unhöflichen Ausrufers, machte dann eine Handbewegung und sagte lächelnd: »O nein, mein Herr Leutnant, von überall lasse ich mich nicht so leicht fortweisen wie aus meinem eigenen Walde!«
Auch der Leutnant wurde auffallend rot, und auch er antwortete mit einer Anspielung auf das damalige Erlebnis: »Aus dem Walde Ihres Herrn Schwiegervaters, nicht wahr, Herr Rittmeister?«
Dabei lächelten sich nun beide an, beiden stand recht lebhaft die Szene im Schwarzen Grunde vor Augen, der Pfiff des Postens, dann die scharfe Zurückweisung des Leutnants. Beide Herren kamen sich recht klug und ihrem Gegenüber sehr überlegen vor, der Leutnant, weil er dem Vater das Verhältnis zur Tochter verborgen hatte, der Rittmeister, weil er trotz aller Barschheit des Leutnants das heimliche Vergraben von Waffen erfahren hatte.
Die nächsten Sätze der beiden waren bemerkenswert. Der Leutnant sagte harmlos-freundlich: »Dem Fräulein Tochter geht es gut?«
»Danke«, antwortete der Rittmeister. Er dachte, mit Speckfängt man Mäuse, und fuhr fort: »Im Schwarzen Grunde ist alles in Ordnung?«
»Danke«, sagte der Leutnant trocken.
Das Gespräch war zu Ende.
Jeder der beiden Klugen glaubte erfahren zu haben, was er wissen wollte, der Leutnant, daß die Tochter nicht geschwatzt hatte, der Rittmeister, daß die Waffen noch im Walde lagen. Unwillkürlich sahen die beiden nun zu dem dritten Mann im Abteil hinüber, der schweigend, mit einer Zeitung beschäftigt, in seiner Ecke gesessen hatte. Der dritte Mann ließ die Zeitung sinken und hob den Blick.
Wenn dieser Mann auch, übrigens genau wie der Leutnant, Zivil trug, so verriet doch sein ganzes Gesicht, die Art, wie er sich hielt, einen ständig vom Uniformtragen gestrafften Körper. Trotzdem er in einem viel zu weiten Sakko steckte, sah man ihm sofort den Offizier an – es hätte gar nicht des an einem
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