Wolf unter Wölfen
bleibt vor ihm stehen. Ja, das ist sie – Petra Ledig –, aber auch das kann ihn nicht halten. Haar und Fleisch, ein eiliger Ruch, Begehren, Erfüllen – aber die Welt ist voll davon. Flüchtig fallen ihr die tausend Zimmer ein, in die um diese Stunde schon wieder das Vormittagsbegehren einkehrt: Küsse werden getauscht, Frauen langsam entkleidet, Bettstätten knarren, der flüchtige Seufzer der Lust wird laut und entflieht. Es wird angeknüpft und vollendet, man trennt sich – zu jeder Stunde, in jeder Minute – in tausend Zimmern.
Hat sie geglaubt, sie sei sicher davor? Es könne so weitergehen? Zutiefst weiß sie, hat sie immer gewußt, es würde nicht dauern. Sie rannten so auf den Straßen, sie hatten alle Eile, liefen, den Zug noch zu fassen, das Mädchen zu treffen, diesen Schein noch vor seiner völligen Entwertung auszugeben. Was dauerte denn –? Und Liebe sollte dauern –?!
Plötzlich begreift sie, daß alles Unsinn ist, woran sie ihr Herz gehängt. Diese standesamtliche Trauung, die ihr heute früh noch so wichtig erschien, daß sie ihm darum eine Szene machte – was änderte die schon? Vorbei! Dahin! Und daß sie hier ohne alles, halbnackt sitzt, überhungrig, mit Schulden – deswegen sollte er heute wiederkommen?! Aber wenn er nicht wiederkommt, ist es doch ganz gleich, wie sie sitzenbleibt – meinethalben mit einem Auto und einer Villa im Grunewald –, er kommt nicht wieder, das ist das einzig Wichtige! Und was sie dann anfängt, ob sie aus dem Fenster springt oder wieder Schuhe verkauft oder auf den Strich geht – das ist dann auch gleich, er kommt nicht wieder!
Sie steht noch immer vor dem Spiegel und sieht sich an, als stehe dort eine gefährliche Fremde, auf die man gut aufpassen muß. Die dort im Spiegel ist sehr blaß, ein von innen verzehrtes, bräunliches Blaß, die dunklen Augen brennen, das Haar hängt mit ein paar losen Strähnen in die Stirn. Sie sieht sich atemlos an. Es ist, als halte alles den Atem an – das Haus seufzt noch einmal schläfrig auf und verstummt. Sie atmet noch. Sie schließt die Augen, ein fast schmerzender Glücksschauer überrieselt sie. Sie fühlt, wie Wärme ihr in die Wangen steigt, sie wird heiß. Eine gute Wärme, eine schöne Hitze! O Leben, Lust zu leben! Es hat mich geführt, von da über dort hierher. Häuser, Gesichter, Schläge, Gezänk, Schmutz, Geld, Angst. Hier stehe ich – süßes, süßes Leben! Er kann nie wieder von mir gehen. Ich habe ihn in mir.
Es schnurrt, es saust. Es läuft unermüdlich treppauf, treppab. Es regt sich in jedem Steinwürfel. Es quillt aus den Fenstern. Es schielt und es schilt. Es lacht, ja, es lacht auch. Leben, süßes, herrliches, unvergängliches Leben! Er kann nicht wieder von mir gehen. Ich habe ihn in mir. Nie gedacht, nie gehofft, nie gewünscht. Ich habe ihn in mir. In der hohlen Hand lagen wir, und das Leben lief, lief mit uns. Nie kamen wir irgend an. Alles entglitt. Alles vorbei. Alles dahin. Aber es blieb etwas. Nicht über alle Fußstapfen wächst Gras, nicht jeder Seufzer verweht. Ich bleibe. Und er bleibt. Wir.
Sie sieht sich an. Sie hat die Augen wieder geöffnet und sieht sich an. Das bin ich! denkt sie zum ersten Male in ihrem Leben, ja, sie zeigt mit dem Finger auf sich. Sie ist ohne jede Angst. Er wird schon wiederkommen. Auch er wird eines Tages begreifen, daß sie »Ich« ist, wie sie es begriff. Sie begriff es, seit sie nicht mehr »Ich«, sondern »Wir« ist.
5
Sooft der Rittmeister von Prackwitz auch nach Berlin kam, zu seinen Hauptvergnügungen gehörte es, einmal die Friedrichstraße und ein Stück Leipziger entlangzuschlendern und in die Läden zu schauen. Nicht etwa, daß er große Einkäufe machte oder auch nur beabsichtigte, nein, die Schaufenster freuten ihn. Sie waren so herrlich für einen Provinzler zurechtgemacht. In manchen gab es entzückende Sächelchen zu sehen, Dinge, die einen reizten, einfach in den Laden zu gehen, mit den Fingern auf sie zu zeigen, zu sagen: Dies! Und in andern standen wieder so schauerliche Greuel und Scheuel, daß man womöglich noch länger davor stehenblieb, immer von neuem zum Lachen gereizt. Und wiederum kam man in die Versuchung, solch Stück nach Haus zu bringen, nur um einmal zu sehen, wie Eva und Weio sich über diesen gläsernen Mannskopf, dessen Mund als Aschenbecher diente, amüsieren würden. (Man konnte den Kopf auch an die Lichtleitung anschließen, dann glühte er schaurig rot und grün.)
Aber die Erfahrung, daß diese Dinge schon
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