Wolf unter Wölfen
nicht auf ihn geschossen hat – wie er sich weiter trübe im Hundertstel einer Sekunde der Pistole in der eigenen Tasche erinnert, mit der er die Schmach des Schlages heimzahlen könnte –
Da durchfährt es ihn mit schneidender Schärfe, daß er nicht nur die Kameraden über den Verrat des Waffenlagers getäuscht, daß er ihnen nicht nur jetzt ganz grundlos neue Schwierigkeiten gemacht hat, sondern daß er wirklich nichts wie ein Feigling ist. Daß er alle diese Dinge nur tut, um die Fahrt in den Schwarzen Grund zu verzögern, um die Entdeckung der Wahrheit hinauszuschieben, um sich ein paar Stündchen Leben zu stehlen! Der Lack platzt, die schöne Farbe blättert ab, morsch, verfault sieht er das Holz seines Lebensschiffes; dies bist du! spricht die Stimme.
Und während er sich mühsam von der Erde hochtastet, während er mit schmerzenden Gliedern weitergeht, ohne auf den Posten zu achten, ohne auch nur an ihn zu denken – so völlig hat die neue Erkenntnis alles eben Geschehene in ihm ausgelöscht –, muß er immer wieder an jenen Sommermorgen im Walde denken, wie er den kleinen Meier mit der Pistole in der Faust vor sich her trieb, wie er den erbärmlichen Feigling verachtet hat, welch Ekel ihn überkam vor seinem Betteln – und peinigend nagt an ihm die Angst: Werde ich auch so feige sein? Werde ich überhaupt den Mut haben, loszudrücken? – Wie werde ich sterben?
Dieser Gedanke wird immer stärker in ihm, wenige Minuten, und er beherrscht alles!
Wie werde ich sterben: als Kerl oder als Feigling? Wird meine Hand vielleicht zittern, und ich werde mich blindschießen wie damals der kleine Rakow? Gott, was hat er geschrien!
Er schaudert, fester umfaßt er den kühlen, glatten Pistolenschaft in der Tasche, als könnte der ihm das Selbstbewußtsein geben, an dem es ihm sein ganzes Leben lang nie gefehlt hat und das nun, da es ans Sterben geht, ihn völlig verläßt. Ich muß schnell machen, denkt er verzweifelt. Ich muß schnell hinfahren in den Schwarzen Grund, damit ich Gewißheit habe. Wie kann ich denn leben, wenn ich nicht einmal weiß, ob ich mutig genug zum Sterben bin?!
Aber während er dies alles denkt, während doch jede Fiber in ihm zur Entscheidung zu drängen scheint, geht er mühsam, aber beharrlich immer weiter von seinem Rade fort, vom Schwarzen Grunde fort, vom Tode fort, zur Ausführung eines widerlichen Spionageauftrages, der doch längst für ihn gegenstandslos geworden ist. Er denkt nicht darüber nach, diese Inkonsequenz fällt ihm schon nicht mehr auf. Aber als er eine kleine Kneipe sieht, in der er manchmal gesessen hat, fällt ihm ein, daß er sich unmöglich mit so beschmutzten Kleidern vor dem Dienstmädchen Frieda sehen lassen kann, und er tritt ein. Er bestellt sich beim Wirt ein Glas Bier und fragt ihn, ob er nicht irgendeine Jacke hat, die er statt des verdreckten Dings anziehen kann.
Der Wirt sieht ihn einen Augenblick schweigend an; er weiß natürlich ungefähr, was der Leutnant vorstellt. Dann verschwindet er und kommt mit einer nagelneuen Windjacke zurück.
»Ich glaube, das Ding müßte Ihnen passen«, sagt er. »Was haben Sie denn mit Ihrer angefangen?«
»Hingefallen«, murmelt der Leutnant.
Er hat seine Windjacke abgestreift und sieht auf der Außenseite des Unterarms einen großen, schwarz unterlaufenen Blutfleck. Gedankenverloren schiebt er das Hemd über der Brust auseinander und findet auch dort die Spuren des Kolbens. Als er das Hemd wieder zuknöpft, begegnet er dem Blick des Wirtes.
»Es geht doch nicht etwa schon los?« fragt der Wirt leise.
»Nein«, antwortet der Leutnant und zieht die Windjacke über. »Paßt wie nach Maß.«
»Ja, ich sah gleich, daß Sie eine Figur mit meinem Jungen haben. Ich habe meinem Jungen die Windjacke für morgen gekauft. Mein Junge geht auch mit, Herr Leutnant.«
»Schön«, sagt der Leutnant und trinkt einen Schluck Bier.
»Nicht wahr, Herr Leutnant?« bittet der Wirt. »Sie sorgen dafür, daß die Windjacke heute abend zurück ist? Er möchte doch auch anständig aussehen, wenn er morgen mitgeht – es ist das erstemal, daß er so was mitmacht.«
»Geht in Ordnung«, sagt der Leutnant nur. »Was bin ich schuldig?«
»O nichts!« antwortet der Wirt eilig. »Eine Frage, wenn Sie es nicht übelnehmen …«
»Nun?«
»Waren Sie in der Kaserne?«
»Nein, ich war nicht in der Kaserne.«
»So – dann wissen Sie also auch nichts. Es soll dicke Luft sein in den Kasernen …«
Er sieht den Leutnant abwartend an,
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