Wolf unter Wölfen
Gotteswillen! Die Frau dort oben darf nicht gestört werden! Es kann sich nur um ein paar Minuten handeln, und Schnaps und Veronal werden ihr Werk an diesem Manne getan haben. Er wird ruhig geworden sein, Pagel kann es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Alle Glieder zittern ihm noch – und dann der Lärm …
»Stillgestanden!« schreit der Rittmeister.
Noch einmal flackert der Lebenswille in ihm auf. Noch einmal darf er kommandieren, er selbst sein. Das Wort ist in seinen Mund gelegt, das Wort der erbarmungslosen Macht, der gehorcht werden muß, ohne Wimpernzucken. Höher als Alkohol berauscht ihn ein letztes Mal die Macht.
»Stillgestanden, Fahnenjunker Pagel! Zwei Schritt – vorwärts! Kehrt! Stillgestanden! Stillgestanden, sage ich! Warum wackeln Sie, Mensch?«
»Was ist das?« sagt die Stimme der Frau von der Tür her. »Achim, kannst du denn keine Ruhe geben? Du quälst mich so …«
Der Rittmeister hat sich blitzschnell umgewendet. »Ich dich quälen?« schreit er. »Ihr quält mich! Laßt mich doch alleine, laßt mich verrecken, laßt mich saufen – zu was bin ich denn nütze?!«
Plötzlich, ganz unvermittelt, in mildem Tone: »Sie dürfen rühren, Fahnenjunker Pagel. Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu arg geschlagen, es lag nicht in meiner Absicht.«
Wieder wirrer: »Ich weiß nicht, was es ist, daß ich so etwas tue. Es ist in mir, es ist immer in mir gewesen, ich habe es untengehalten, aber nun will es heraus. Keiner kann es halten, es will heraus. Aber wenn es zu trinken bekommt, wird es ruhig, es schläft ein …«
Er murmelt immer leiser vor sich hin. Mit dem Fuß hat er die auf dem Boden liegende, ausgelaufene Flasche angestoßen. Er hat den Kopf geschüttelt, nun wendet er sich wieder zum Likörschrank.
»Fassen Sie an, Herr Pagel!« sagt Frau Eva von Prackwitz tonlos. »Können Sie ihn noch auf einer Seite anfassen, daßwir ihn die Treppe hochkriegen? Ich sehe Ihren Kopf oben gleich nach. Ich muß zurück. – Ach, lassen Sie ihn, lassen Sie ihn doch ruhig seinen Schnaps mitnehmen, es ist jetzt ja doch alles egal. Es ist ja doch alles vorbei – oh, Pagel, wenn die Violet nicht wäre, wozu sollte ich dann noch leben –?! Ich tät’s ja am liebsten auch wie die beiden, mich ins Bett legen und schlafen und von nichts mehr etwas wissen. – Ach, sagen Sie doch, Herr Pagel, was hat das denn für einen Sinn, wozu hat man geheiratet und einen Mann gerne gehabt und ein Kind gekriegt – und nun wird einem alles zerschlagen, Dreck zu Dreck, Mann und Kind, Dreck zu Dreck … Sagen Sie doch, Herr Pagel –?«
Aber Pagel antwortet nicht.
Die kleine, jammervolle Prozession tastet, stolpert jetzt die Treppe in den ersten Stock hinauf. Der Rittmeister ist kaum noch bei Bewußtsein, aber seine Flasche Wodka hält er fest. Die Frau ist so fieberhaft erregt, daß sie immer wieder stehenbleibt, daß sie den Transport des Rittmeisters völlig vergißt und nur auf Pagel einredet, eine Antwort von ihm haben will …
Und der noch halb betäubte Pagel hört dieses Gerede, aber er hört auch etwas anderes, und in seinem gequälten Hirn taucht langsam der Gedanke auf, daß er etwas Schreckliches hört, etwas Grauenhaftes …
Nein, das Haus ist nicht mehr ganz still. Zwischen den Redefetzen der gnädigen Frau hört er aus dem ersten Stock ein Geräusch, das er in dieser Nacht noch nicht gehört hat, ein grausiges, schreckliches Geräusch, trocken, hölzern, seelenlos:
Klapp – klapp!
Und wieder:
Klapp – klapp – klapp …
Und mitten in das Gerede der gnädigen Frau hinein hebt Pagel den Finger (er läßt den Rittmeister einfach auf den Treppenabsatz niedergleiten), sieht sie starr an und flüstert: »Da!«
Und sofort verstummt Frau Eva, und sie hebt den Kopf und sieht Pagel an, und sie lauscht dabei nach oben, und es ist ganz still …
Klapp – klapp …
Und das Kinn der gnädigen Frau fängt an zu zittern, ihr weißes Gesicht wird ganz gelb, wie von einer plötzlichen Krankheit verwüstet, ihre Augen füllen sich langsam mit Tränen –
Und da kommt es wieder: Klapp …
In demselben Augenblick ist der Bann gebrochen, und gleichzeitig stürmen sie die Treppe hinauf. Sie laufen über den kurzen Gang, sie treten in Violets Zimmer …
Ruhig liegt das Zimmer im Licht der Deckenlampe, weiß schimmert das Bett. Aber das Bett ist leer. Die unbefestigten Fenster klappern im Nachtwinde, langsam, seelenlos, hölzern: Klapp, klapp …
Und nun kommt das, was Pagel die ganze Zeit fürchtete, vor dem er
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