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Wolf unter Wölfen

Wolf unter Wölfen

Titel: Wolf unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Fallada
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gebebt hat und das er doch erwartet hat … Es kommt der Schrei der Frau, der schreckliche, nicht enden wollende Schrei der Frau, der in hundert, in tausend kleine Schreie zerbricht, wie ein höllisches Gelächter, nicht wieder aufhörend: die Kreatur, zerbrechend von ihrer Qual.
    Immer von neuem sagt sich Pagel, während er Frau Eva auf das Sofa legt, während er ihre Hände streichelt, auf sie einredet, um ihr Ohr wieder den Klang einer befreundeten, menschlichen Stimme hören zu lassen – immer von neuem sagt er sich, daß dies kein bewußter Schrei ist, daß die Frau fast völlig betäubt von dem irrsinnigen Schmerz ist, den sie fühlt … Aber dann ist ihm doch wieder, als schrien in dieser einen Stimme alle Mütter, die ihre Kinder verlieren müssen – alle Mütter alle Kinder, langsam oder schnell. Denn wir verweilen hier nicht.
    Zwischendurch geht er zum Fenster und schließt es, um das unerträgliche, hölzern klappernde Geräusch abzustellen. Er wirft dabei eilig einen Blick auf das Wandspalier, er meint, eine zertretene Ranke zu sehen – und er schließt das Fenster.Er weiß ja doch genug: der Schluß Waffenlager – Leutnant – Violet ist für ihn so leicht! Vor einer halben Stunde war er in der Versuchung, der verstellt schlafenden Violet zuzurufen: Der Leutnant kommt! Er hat es nicht getan, aber nun ist der Leutnant wirklich gekommen, meint er; er versteht alles, denkt er. Aber was soll er davon der sinnlosen Frau sagen …?
    Und er redet ihr zu, er sagt immer wieder, daß das Mädchen im Fieber in den Wald gelaufen sei, daß die gnädige Frau doch nur einen Augenblick mit ihm hinunter ans Telefon kommen möge, damit er Herrn von Studmann benachrichtigen kann. Dann werden sie Fräulein Violet suchen und finden …
    Aber Frau Eva von Prackwitz erreicht kein gütiges, kein überredendes Wort. Sie liegt da und stöhnt und weint. Er darf nicht weg von ihr, und er ist allein im Haus, der Rittmeister aber verschläft den Verlust der Tochter auf dem Treppenabsatz …
    Bis das Telefon unten im Hause schrillt und lärmt. Was die menschliche Stimme nicht vermocht hat, vermag diese Klingel: Frau von Prackwitz fährt hoch aus ihrer Betäubung und ruft: »Laufen Sie ans Telefon! Sie haben meine Weio gefunden!«
    Sie läuft mit ihm, sie steht hinter ihm, sie nimmt den zweiten Hörer. Sie stehen sich so nahe, die Augen brennen, sie sind wie Gespenster, die nicht leben noch sterben … sie lauschen …
    Aber es kommt nur die Stimme Herrn von Studmanns, der aufgeregt berichtet, im Schloß feierten die Mädchen eine Orgie mit den entflohenen Zuchthäuslern: »Und alle sind toll und voll besoffen, und, Pagel, es ist eine großartige Gelegenheit …«
    Mit einem Ruck hängt die gnädige Frau ihren Hörer wieder an; Pagel sieht sie langsam, wie ohne Bewußtsein, die Treppe wieder hinaufsteigen. – Und leise sagt er mit eiligen Worten dem Herrn von Studmann, daß Fräulein Violet aus dem Hause verschwunden sei. Man brauche sofort Polizeiauf Motorrädern und Suchhunde, und auch zwei, drei zuverlässige Frauen hier in der Villa … Die Tür sei offen …
    Und er hängt an und schließt die Tür weit auf, er läßt sie einfach offen stehen, hinaus in die Nacht des Unglücks: Mehr Unglück kann dies Haus nicht befallen. Er eilt die Treppe hinauf, er steigt achtlos über den schlafenden Rittmeister fort, und er findet Frau Eva von Prackwitz, kniend vor dem Bett der entflohenen Tochter. Sie hat die Hände unter die Decke geschoben, sie spürt vielleicht das letzte, was ihr von ihrem Kind verblieben ist, das bißchen Lebenswärme, das vom Bett festgehalten ist …
    Wolfgang Pagel sitzt still neben der stillen Frau, er stützt den Kopf in die Hand. Und hier, angesichts des größten Schmerzes, den er je gesehen, verfällt er in Gedanken an eine andere, eine Ferne, eine so Geliebte … Vielleicht denkt er daran, was Menschen den Menschen in Liebe, Gleichgültigkeit und Haß antun können … Er faßt wohl kaum einen Entschluß, mit den ausgedachten Entschlüssen ist es nicht so weit her – aber er läßt etwas wachsen in sich, was sachte schon immer in ihm war. Er gibt ihm allen Raum, einer sehr einfachen Sache: so gut und so anständig zu sein, wie nur immer möglich. (Denn wir sind alle nur aus Fleisch gemacht …)
    Dann hört er die Stimmen und Schritte der Leute unten. Und nun wird sofort alles undeutlich, wie immer, wenn man unter die Leute gerät. Er steht auf und läßt den Rittmeister ins Bett bringen. Er ruft den Arzt

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