Wolf unter Wölfen
auch nicht an dem andern schuld. Dann muß ich mir doch auch keine Gewissensbisse machen, nicht wahr?«
Pagel sah nachdenklich auf den alten Mann, der nun wieder still mit geschlossenen Augen lag. In ihrem Fensterwinkel, das Gesicht in die Nacht hinaus, die alte Frau sang weiter mit schriller, leiser Stimme Kirchenlied um Kirchenlied, als sei sie ganz allein.
»Also ruhen Sie sich ein bißchen aus, bis der Doktor kommt«, sagte Pagel dann plötzlich. »Ich rufe ihn nun gleich an.«
»Aber warum antworten Sie mir denn nicht, Herr Pagel?« rief der alte Mann kläglich, richtete sich halb auf im Bett und starrte ihn mit den kugeligen, hellen Augen an. »Ist es denn nicht so, wie ich sage? Wenn der Bäumer mich nicht umgeradelt hätte, wäre doch alles anders gekommen!«
»Sie haben Gewissensbisse und wollen sich selbst freisprechen, nicht wahr, Herr Kniebusch?« fragte Pagel nachdenklich. »Aber ein Freispruch gilt nur, wenn man sich ganz unschuldig fühlt. Ich würde es doch lieber mal mit den Bienen versuchen. – Gute Nacht.«
Und damit ging Pagel rasch aus dem Zimmer, er löschte das Licht, schloß die Außentür ab, und nun stand er draußen. Es war schon recht dunkel, aber vielleicht traf er doch noch die Leute bei den Kartoffelmieten.
6
Der Mietenplatz lag etwa fünf Minuten vom Gutshof entfernt, an einer Stelle, wo drei Feldwege zusammenliefen, an zwei Seiten begrenzt vom Walde. Diese Lage, die für die Anfuhr bequem war und die zugleich durch den Wald die Mieten vor den eisigen Ost- und Nordwinden schützte, war aus früheren Jahren beibehalten worden. Aber schon jetzt, Ausgang des Herbstes, erwies sie sich als gefährlich. Die Abgelegenheit des Ortes erlaubte den Kartoffeldieben ungesehene Annäherung, die Nähe des Waldes leichteste Flucht.
Pagel hatte ständig Ärger mit diesen Mieten. Alle Morgen war hier oder dort ein Loch in die Erddecke gebuddelt, die auf den Kartoffeln als Schutz vor dem Winterfrost lag. Schon jetzt lagerten über zehntausend Zentner hier – der Diebstahl von drei oder fünf Zentnern fiel lange nicht so ins Gewicht wie die Arbeit, die das Verschließen der offenen Stellen machte, wie die Gefahr, in die eine Miete von fünfhundert Zentnern kam, wegen eines solchen Loches zu erfrieren. Hundertmal hatte Pagel sich schon geärgert, daß seine Unbedachtsamkeit ihn dem Vorschlag der Leute hatte zustimmen lassen, die Kartoffelmieten auf dem altgewohnten Platz anzulegen. Ein erfahrener Beamter hätte all die Schwierigkeiten, die sich in diesem Jahre aus der Lebensmittelknappheit ergaben, vorausgesehen. Pagel war überzeugt,daß ganz Altlohe bei ihm zur Kartoffelernte angetreten wäre, wenn die Mieten direkt beim Hof unter ständiger Aufsicht gelegen hätten. Aber so war es ja viel einfacher, sich nachts ohne Risiko das zu holen, was man sonst erst in vielen Tagen harter, eisiger Arbeit erworben hätte. Und man konnte es den Leuten nicht einmal übelnehmen: Ihnen fehlte das Nötigste, sie litten oft Hunger, sie nahmen eine Kleinigkeit vom Überfluß – wem konnte das weh tun –?!
Sorgenvoll, nachdenklich strich Pagel in der wachsenden Dunkelheit zwischen den langen, fast mannshohen Dämmen der Mieten herum. Die Leute waren natürlich schon fort und die Diebe noch nicht da: Er hatte sich wieder einmal einen Weg umsonst gemacht.
Doch nicht ganz umsonst: Denn nun stieß er mit dem Fuß gegen eine vergessene Schaufel, der ein nasser Nachtaufenthalt auch nicht grade guttun würde. Er sammelte sie auf, um sie in die Gerätekammer mitzunehmen. Aber einen Augenblick später stieß er auf zwei steckengebliebene Spaten. Auch sie nahm er mit. Doch gleich fand er zwei Forken, wieder Schaufeln – es war unmöglich, er konnte das nicht allein auf den Hof schleppen!
Entmutigt setzte er sich auf einen Strohballen, plötzlich völlig, grenzenlos entmutigt. Es ist oft so, daß ein Mensch viele harte Dinge eine lange Zeit hindurch mutig erträgt, plötzlich wirft ihn dann eine Kleinigkeit um. Pagel hatte mit unveränderter Freundlichkeit viel Schwereres in den letzten Wochen ertragen, aber der Gedanke, daß er vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein herumlief, tätig war und daß doch Nachlässigkeit, Liederlichkeit, Faulheit zunahmen, der Gedanke, daß fünfzehn Schaufeln, Spaten und Forken in dieser Nacht Rost ansetzen würden, warf ihn um.
Er saß auf seinem Strohballen, den Kopf in die Hand gestützt, es wurde immer dunkler. Hinter ihm der Wald rauschte geheimnisvoll, es tropfte ständig von
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