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Wolf unter Wölfen

Wolf unter Wölfen

Titel: Wolf unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Fallada
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Sie bleibt eine Weile. Der Chauffeur erzählt: »Nur durch Ortschaften und Städte darf ich schnell fahren, da sieht sie nicht aus dem Fenster. Sie denkt wohl, die beiden sind immer allein. – Nun, ich bin froh, daß ich heute Schluß machen kann.«
    »Tut sie Ihnen denn gar nicht leid?« fragte Pagel den korrekten Musterchauffeur.
    »Leid … Natürlich tut sie mir leid«, antwortete der. »Aber schließlich fahre ich einen sechzigpferdigen Horch und keinen Kinderwagen. Glauben Sie, das macht einem Chauffeur Spaß, so nuddlig rumzuleiern?«
    Frau von Prackwitz kam aus dem Chausseewärterhaus. »Langsam weiter!« sagte sie.
    Pagel hätte den Chauffeur treiben mögen. Sie mußten bis zwölf Uhr den Wagen in Frankfurt bezahlt haben, Studmann hatte es ihm eingeschärft, um zwölf würde der neue Dollarkurs herauskommen … Aber Pagel sagte kein Wort, nicht dem Chauffeur, nicht der gnädigen Frau …
    Es wurde drei Uhr, bis sie in der Stadt waren, abrechnen konnten. Der Dollar war mit dreihundertzwanzig Millionen gegen zweihundertzweiundvierzig am Vortage gekommen – die ganze Pachtsumme ging drauf. Es blieb sogar noch eine kleine Restschuld stehen …
    »Das macht nichts«, sagten die Herren höflich. »Sie erledigen diese Kleinigkeit nach Ihrem Belieben.«
    Pagel wußte, daß es Herrn von Studmann viel machen würde. Er hatte gehofft, Pagel würde noch eine große Summe zur Lohnzahlung zurückbringen. Noch mehr würde es freilich Herrn von Studmann ausmachen, daß aus der erbetenen Unterredung um sechs Uhr nichts wurde. Frau von Prackwitz hatte Pagel in einem Lokal sitzenlassen, sie war fortgegangen, den neuen Chauffeur zu holen. Stunden vergingen, ehe sie wiederkam; der große, schöne Wagen stand führerlos auf der Straße.
    Schließlich, es war schon fast dunkel, kam sie mit dem neuen Chauffeur. »Das ist Oskar, Herr Pagel«, sagte sie und setzte sich müde hin. »Oskar ist der Sohn einer Hausdame von Papa. Ich dachte an ihn, er hat Autoschlosser gelernt …«
    »Ich habe auch den Führerschein«, sagte Oskar und setzte sich mit an den Tisch.
    Oskar war ein Bengel, Anfang der Zwanzig, mit ungeheuer großen Händen und einem Gesicht, wie roh aus einem Teigkloß geformt; aber er sah gutmütig und ein wenig einfältig aus.
    Frau von Prackwitz trank eilig eine Tasse Kaffee nach der andern. Aber sie aß nichts.
    »Iß nur ordentlich, Oskar. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
    »Sie sollten auch ein wenig essen, gnädige Frau.«
    »Nein, danke, Herr Pagel. – Oskar hat Violet noch gekannt, er wird mir helfen, sie zu finden. Wie alt war Violet, Oskar, als du von Neulohe in die Lehre kamst?«
    »Acht Jahre.«
    »Wenigstens wird er so fahren, wie ich es haben möchte, nicht wahr, Oskar?«
    »Natürlich, Frau von Prackwitz. Immer ganz langsam und alle ansehen – ich habe es schon verstanden. Ich habe doch davon in der Zeitung gelesen …«
    Frau von Prackwitz schloß einen Augenblick die Augen. Dann sagte sie mit Nachdruck zu Pagel: »Ich habe wohl gemerkt, wie widerwillig dieser Finger so gefahren ist, wie ich wollte. Ihr alle tut jetzt oft nur widerwillig, was ich möchte – Sie auch, Herr Pagel!«
    Er machte eine Bewegung.
    Sie sagte: »Laßt mich doch tun, was ich will.
Ich
habe doch meine Tochter verloren, nicht wahr? Wenn einer von euch vorher klug gewesen wäre – aber jetzt! Was soll das?«
    Pagel schwieg.
    Endlich fuhren sie, es war nach sechs, es war schon ganz dunkel. Warum sie nicht den direkten Weg nach Neulohe fuhren, sondern einen meilenweiten Umweg, warum sie trotz der Dunkelheit kaum je schneller als zwanzig Stundenkilometer fuhren, warum sie auch in der Nacht noch halten mußten, und die gnädige Frau ging ein paar Schritte in einen unbekannten Wald hinein – Wolfgang verstand das alles nicht.
    Vielleicht wollte sie nur allein sein, vielleicht stand sie nur da in der dunklen Nacht und wartete, bis das Motorengeräusch in ihrem Körper verstummt war, bis das Klopfen des eigenen Herzens wieder laut wurde in ihr. Meinte sie, daß sie, wenn sie das eigene Ich fühlte, auch die Tochter mitspürte, die einmal ein Teil dieses Ichs gewesen war?
    Oder stand sie nur da in der Nacht, mit geschlossenen Augen in dem enggeschlossenen Behältnis der Nacht, und erwartete eine Helle, in der sie durch den Wald gegangen kämen – er und sie? Wie dachte sie an diese Verlorenen? Sah sieihn vorausgehen, den häßlichen, trocknen, grauen Kopf gesenkt, zugekniffen der dünnlippige Mund – und die Tochter geht einen

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