Wolf unter Wölfen
nein, nein! Nun erst recht nicht! Für Gut und Böse – for better and worse, heißt es bei den englischen Trauungen. Ich bin auch so! Grade für Böse, erst recht für Böse!«
Sie sieht Pagel starr an, ihr Gesicht zuckt.
»Ach, Herr Pagel«, sagt sie klagend. »Ich weiß, Sie haben heute abend versucht, ihn wieder in dieses Leben zurückzurufen. Sie sind es natürlich gewesen. Wie soll denn der Pfleger auf so etwas kommen?! Ich war zuerst sehr böse auf Sie, Sie müssen ja doch auch sehen, daß er bloß ein armer Kranker ist. Aber dann habe ich mir gedacht: es war doch freundlich gedacht. Sie sorgen sich noch um ihn. Aber mein Vater, der will nur, daß ich ihn sitzenlasse, in irgendeine Irrenanstalt stecke, einen Vormund bestelle – fertig, los! Aber wir haben fast zwanzig Jahre miteinander gelebt, Herr Pagel!«
»Er hat einmal ›O Gott!‹ gesagt.«
»Ja, ich habe es gehört. Das bedeutet nichts; er weiß nicht mehr, was er sagt. Aber Sie sind eben jung, Sie hoffen noch. – Ach, Herr Pagel, wenn ich jetzt so durch das Land fahre und sehe die Leute über die Landstraße laufen, jetzt, bei dem schlimmen Wetter! Es sind so viele unterwegs, nicht nur Stromer. Diese schreckliche Zeit macht alle ruhelos. – Heute früh, es regnete grade so eisig, sah ich zwei junge Leute. Er schob einen Kinderwagen, so einen ganz alten aus Rohr auf hohen Rädern, und sie ging neben dem Wagen her und redetedem Kind zu. – Nein, ich habe ihnen nichts gegeben«, rief sie fast leidenschaftlich, »ich habe gedacht, daß vielleicht meine Violet auch so herumläuft, aber sie hat kein Kind, zu dem sie sprechen kann, sie hat niemanden, zu dem sie sprechen kann! Ach, Herr Pagel, was soll ich nur tun?!«
»Hoffen …«, sagt er.
»Darf ich es denn noch –? Soll ich es denn noch –?! Kann ich es ihr denn überhaupt noch wünschen, daß sie lebt? Ist es nicht bloß Eigennutz von mir, daß ich es hoffe –? Ist denn überhaupt noch ein Stückchen von meiner Violet da? Ach, immerzu wünsche ich, daß ich sie treffe, und immerzu schaudere ich davor. Herr Pagel, es sind jetzt über vier Wochen, daß sie fort ist –!«
»Sie hat ihren freien Willen nicht«, sagt Pagel leise. »Eines Tages wird sie ihn wiederfinden, dann wird sie kommen.«
»Nicht wahr, Sie sagen es auch?!« ruft sie fast freudig. »Sie schläft noch, sie schläft noch immer! Wenn man schläft, so fest schläft, fühlt man nichts, sie wird unverändert zurückkommen. Sie wird dort oben in ihrem Zimmer aufwachen, sie wird glauben, es ist nichts gewesen, sie hat sich am Abend vorher schlafen gelegt!«
Mit Staunen sieht Pagel auf die Frau. Sie ist aufgeblüht, die Hoffnung, der unbesiegbare Lebenswille haben sie aufgeweckt, sie ist wieder jung – das Leben hat für sie noch große Gaben bereit!
»Ich will Ihnen noch etwas sagen, Herr Pagel«, flüstert sie plötzlich, mit einem Blick zur Tür. »Ich suche nicht allein nach ihnen, es sucht noch einer. Er hat meinen Wagen angehalten, es ist ein Mann mit einem dicken, gedunsenen Gesicht, er hat einen steifen schwarzen Hut auf, einen glasigen Blick – vielleicht kennen Sie ihn?«
Pagel sieht sie an. »Ja, ich kenne ihn –«, sagt er leise.
»Nein, sagen Sie mir nichts von ihm!« ruft sie eilig. »Ich will nichts von ihm wissen. Er hält meinen Wagen an, er fragt nichts, er grüßt nicht, er sagt nur: Fahren Sie einmal da und da hin! Dann sehe ich ihn wieder auf irgendeiner Landstraße,in einem Städtchen, er ist auch immer unterwegs. Er schüttelt nur den Kopf, wenn ich ihn ansehe, geht weiter … Herr Pagel, wenn ich sie nicht finde, er findet sie! Manchmal denke ich, die reden soviel von der Liebe … Aber der Haß ist viel stärker!«
»Ja«, sagt Pagel. »Der Mann haßt das Böse. Er sieht böse aus, aber er haßt die Bosheit, sein Haß treibt ihn ruhelos umher.«
»Sagen Sie mir nichts von ihm!« ruft sie wieder. »Ich will nichts von ihm wissen!« Und ganz leise: »Er ist doch jetzt über vier Wochen mit Violet unterwegs, er muß doch irgendwie für sie sorgen …«
Pagel sieht sie an. Diese Mutter, die ewige Mutter – sie verabscheut den Wurm, der ihr die Tochter unselig und elend gemacht hat. Aber da der Elende die Tochter noch immer leben läßt, ihr ein bißchen zu essen gibt, mag sie nicht daran denken, daß er in die Hände dieses Grausamen gerät!
Pagel steht auf. »Gnädige Frau, machen Sie sich wenigstens keine Sorge wegen des Herrn Geheimrats. Vorläufig wird nichts geschehen. Es ist etwas
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