Wolf unter Wölfen
welche Bereitschaft, welches Entgegenkommen, sie macht ihm alles leicht! »Es ist gut, Wolfgang. Es ist ja nun alles erledigt. Ich freue mich so, daß du wieder hier sitzt …«
Ein Gefühl ungeheurer Erleichterung überkommt ihn. Eben noch stand er am Fenster seines Zimmers, von Zweifeln gequält, wen er verletzen sollte: Mutter oder Petra. Es schien keinen Ausweg zu geben, nur diese zwei Möglichkeiten. Und schon hatte sich alles gewandelt: die Mutter hatte ihren Fehler eingesehen, der Weg in dieses geordnete Heim stand ihnen beiden offen.
Er ist aufgestanden, er sieht auf den weißen, feinfädigen Scheitel der Mutter hinunter, ein Haar liegt wie das andere,sauber, klar. Plötzlich faßt ihn etwas wie Rührung. Er schluckt, er möchte etwas sagen, fast ruft er: »Ich wollte, das Leben wäre ein bißchen anders! Nein, ich wollte, ich wäre anders, dann hätte ich es anders geführt!«
Die alte Frau sitzt mit einem hölzernen, steifen Gesicht am Tisch. Sie sieht ihren Sohn nicht an, aber sie klopft scharf mit ihren Knöcheln auf den Tisch. Es klingt hölzern.
»Ach, Wolfgang«, sagt sie. »Bitte, sei kein Kind. Wenn du zu Ostern sitzengeblieben warst, riefest du auch immer: ›Ich wollte …‹ Und wenn deine Lokomotive kaputt war, bereutest du es auch, hinterher, wie du mit ihr umgegangen warst. Aber das ist nutzlos, und du bist kein Kind mehr. Reue rückwärts hilft gar nichts – Junge, lerne doch endlich: es geht weiter, immer weiter. Vergangenes kann man nicht ändern – aber sich kann man ändern – für die Zukunft!«
»Ja, gewiß, Mama«, sagt er brav. »Ich wollte ja auch nur …«
Aber er spricht nicht weiter. Draußen hat es geschlossen, eilig, übereilig. Nun kommen schnelle Schritte über den Gang …
»Es ist bloß Minna«, sagt die Mama erklärend zu ihm.
Die Tür geht ohne Anklopfen auf, sie fliegt auf, in ihr steht die ältliche Minna, gelblich, grau, trocken.
»Danke schön, Minna«, sagt Frau Pagel rasch, denn sie wünscht im Augenblick keinerlei Botschaft aus der Georgenkirchstraße; sie hat alles, was sie dort interessierte, jetzt hier. »Danke schön, Minna«, sagt sie darum möglichst streng. »Machen Sie bitte sofort das Abendessen zurecht.«
Aber Minna ist dieses Mal nicht der gehorsame Dienstbote, sie steht mit bösen, argwöhnischen Augen in der Tür, ihre gelbgrauen faltigen Backen tragen rote Flecken. Sie beachtet die gnädige Frau gar nicht, böse starrt sie den sonst so geliebten jungen Herrn an.
»Pfui!« sagt sie dann atemlos. »Pfui, Wolfgang, hier sitzt du also …«
»Sind Sie rein verdreht, Minna?!« ruft Frau Pagel empört, denn so etwas hat sie mit ihrer Minna in zwanzig Jahren Zusammenseindoch noch nicht erlebt. »Sie stören! Gehen Sie jetzt …«
Aber sie wird gar nicht gehört. Wolfgang hat sofort begriffen, daß »dort« etwas geschehen ist, eine Ahnung überkommt ihn, er sieht Peter vor sich, wie sie zu ihm gesagt hatte: »Mach’s gut, Wolf«, und er ging mit dem Handkoffer zum Onkel. Sie gab ihm noch einen Kuß …
Er faßt Minna an den Schultern. »Minna, warst du dort? Was ist los? Sag schnell …«
»Du sagst kein Wort, Minna!« ruft Frau Pagel. »Oder du bist auf der Stelle entlassen!«
»Mich brauchen Sie nicht zu entlassen, gnädige Frau«, sagt Minna, plötzlich äußerlich ganz ruhig. »Ich geh auch so. Denken Sie, ich bleib hier, wo die Mutter den Sohn zu Schlechtigkeiten überredet und der Sohn tut’s. Ach, Wolfi, daß du das getan hast! Daß du so gemein sein konntest!«
»Minna, was fällt Ihnen denn ein?! Was erlauben Sie sich, Sie …«
»Sagen Sie nur ruhig wieder Frauenzimmer oder Gans zu mir, ich bin’s ja gewöhnt, gnädige Frau. Nur hab ich immer gedacht, Sie sagen’s bloß aus Spaß. Aber jetzt weiß ich, Sie meinen’s wirklich, daß wir was anderes sind, ich so eine aus der Küche und Sie eine feine Dame …«
»Minna!« ruft Wolfgang und schüttelt das alte, völlig außer Rand und Band geratene Mädchen kräftig. »Minna, sag doch endlich, was ist mit Peter geschehen? Ist sie …?«
»So? Kümmert’s dich wirklich noch, Wolfi? Wo du ihr weggelaufen bist, grade am Trautag, und hast ihr alle Sachen vom Leibe weg verkauft, und sie hat nichts mehr gehabt als den alten verschossenen Sommerpaletot – den vom gnädigen Herrn noch, gnädige Frau! –, kein Stück drunter, keine Strümpfe, nichts … Und so hat sie die Polizei mitgenommen. Aber was das Schlimmste gewesen ist und was ich dir nie und nie verzeihe, Wolfi, völlig
Weitere Kostenlose Bücher