Wolfgang Hohlbein -
und als sie die Augen öffnete, war ihr Blick wieder klar. Wahrscheinlich 28
nur ein letzter, lichter Moment, dachte Tobias mitfühlend.
Obwohl er wußte, wie kostbar jeder Augenblick sein
mochte, ließ er sich noch einmal neben ihr auf die Knie nie-dersinken und griff nach ihrer anderen Hand. Vielleicht war diese Berührung der letzte Trost, der ihr in ihrem Leben gespendet wurde.
»Bitte geh nicht«, flehte Greta.
»Aber ich kann nichts für dich tun«, antwortete Tobias ernst. »Du wirst verbluten oder am Fieber sterben. Willst du das?«
»Ich sterbe nicht«, antwortete Greta leise. »Und wenn, dann . . . dann ist es Gottes Wille.«
»Gottes Wille ist nicht, daß wir aufgeben«, antwortete Tobias. »Es ist eine Sünde, nicht um sein Leben zu kämpfen.«
»Sie ... sie werden mich töten«, sagte Greta. »Sie werden mich umbringen, wenn sie erfahren, was ich getan habe.
Du ... du hast recht. Ich habe das Kind getötet. Ich habe es ertränkt. Aber ich mußte es tun. Es ... es war ein Kind des Teufels, glaub mir, und ich . . . ich habe doch schon zwei andere Kinder.«
Tobias blickte überrascht den Jungen an. »Der Knabe ist nicht dein einziges Kind?«
»Er hat . . . noch eine Schwester«, antwortete Greta. »Es waren drei, aber . . . eines ist im vorletzten Winter gestorben. Es ist erfroren. Mein Gatte war krank und konnte nicht arbeiten, und wir . . . wir durften kein Holz schlagen, der Landgraf hat es verboten, und da ist es erfroren.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie hielt seine Hand so fest, daß es weh tat. »Sie werden mich töten, wenn du sie schickst«, sagte sie noch einmal. »Theowulf haßt mich seit Jahren. Er ... er sucht nur nach einem Vorwand, um mich anzuklagen.«
»Ich kann dich nicht hier liegen und sterben lassen«, sagte Tobias ernst. »Aber ich verspreche dir, daß ich darauf achten werde, daß man dich gerecht behandelt.«
Greta antwortete nicht mehr. Aber sie sah ihn auf eine Art an, die es ihm unmöglich machte, ihrem Blick länger als 29
einige Momente standzuhalten. Glaubte sie denn, er verstünde sie nicht? Es war nicht das erste Mal, daß er einer Frau gegenüberstand, die aus purer Verzweiflung ihr eigenes Kind getötet hatte. Das Leben der einfachen Menschen war hart, manchmal so hart, daß er sich zu fragen begann, warum Gott ausgerechnet den Ärmsten solche Prüfungen auferlegte.
Er verscheuchte den Gedanken beinahe erschrocken und löste seine Hand aus ihrem Griff.
»Wer ist dieser Theowulf, von dem du sprichst?« fragte er.
»Sie ist seine Gespielin!« stieß Greta haßerfüllt hervor. »Er hat die Hexe ins Dorf gebracht! Er ist schuld an allem! Bevor sie kam, war alles gut. Aber mit ihr ist der Teufel bei uns ein-gekehrt! Sie ist schuld an allem! Es ist ihre Schuld, daß ich dieses Satanskind bekommen habe! Wenn du jemanden
bestrafen willst, dann sie!«
»Ich verspreche dir, daß dir Recht geschehen wird«, sagte er noch einmal. »Du hast mein Wort. Wenn es bei euch wirklich eine Hexe gibt - und wenn sie Schuld an deinem Schicksal trägt, dann wird sie es sein, die bestraft wird, nicht du.«
Er meinte diese Worte sehr ernst. Er wußte noch nichts über Buchenfeld und die angebliche Hexe, die dort seit einem Jahr ihr Unwesen treiben sollte - und im Grunde bezweifelte er auch, daß es sie wirklich gab -, aber die Frau tat ihm leid. Sie redete irre, schwach und vom Fieber geschüttelt, wie sie war, aber das bedeutete nicht, daß sie log. Vielleicht war sie keine Mörderin, sondern einfach so verwirrt, daß man sie nicht für das verantwortlich machen konnte, was sie getan hatte. »Und jetzt gehe ich und hole Hilfe«, sagte er. Er lächelte aufmunternd. »Später, wenn du gesund und wieder bei Kräften bist, werden wir ein Gebet sprechen und über alles reden.«
Tobias lächelte noch einmal, beugte sich vor, um ihre Wange zu streicheln, und ließ für einen ganz kurzen Moment ihren Sohn aus dem Auge, und der Junge nutzte die Gelegenheit, den Stein zu ergreifen und ihn Tobias mit aller Macht gegen die Schläfe zu schmettern.
30
Stöhnend kippte er zur Seite, schlug die Hände gegen den Kopf und krümmte sich vor Schmerz. Er verlor nicht das Bewußtsein, aber vor seinen Augen wurde es schwarz, und der Schmerz in seinem Kopf war so schlimm, daß ihm übel wurde.
Wie von weit, weit her hörte er, wie der Junge etwas zu seiner Mutter sagte und sie in scharfem Ton antwortete, dann schleifende, mühsame Geräusche, und schließlich schwanden ihm doch die
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