Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
erspart geblieben. Dieser eine, kleine Moment des Versagens kostete ihn einen Freund, Pendini, und seine Karriere als LKA-Beamter mit den geliebten Auslandseinsätzen. Diesen einen Moment der Schwäche machte er auch für die Affäre mit der falschen Giovanna Pelligrini verantwortlich, in die er sich verliebt hatte. Infolgedessen zerplatzten alle seine Hoffnungen, die Stadt schnell wieder verlassen zu können. Er war am Ende einer Sackgasse angekommen, das spürte er jetzt ganz klar, und er wusste nicht, wie er sich daraus befreien konnte.
Pia, Ärztin am gerichtsmedizinischen Institut, war sein zweiter hilfloser Versuch, die Einsamkeit zu überbrücken. Sie wusste nichts von seinen Gedanken und Gefühlen, und das war auch gut so, denn mit ihr war nicht zu scherzen. Sie meinte es ernst mit der Beziehung zwischen ihnen beiden. Und das passte ihm sowohl jetzt wie auch in den vergangenen Monaten überhaupt nicht ins Konzept. Er brauchte einen klaren Kopf, um das Rätsel um die geheimnisvolle CD, die unerwartet aufgetauchte Galina am Mozartfest und die beiden verschwundenen Leichen der Leibwächter zu lösen. Gerade die Leichen und ihr Verschwinden hatten ihm in den vergangenen Monaten viel Spott und Häme bei den Kollegen eingebracht. Er war sich sicher, dass es sie gab, doch blieben sie trotz einer umfangreichen Suche unauffindbar.
»Schluss jetzt. Es hat nichts mit dir oder uns zu tun«, sagte er schroff. »Alles belangloses Zeugs, mit dem ich dich nicht nerven will.«
Pias Hände ließen ab von ihm.
»Lass mich entscheiden, was mit mir zu tun hat und was ich für wichtig für uns halte. Und außerdem, so viel erzählst du mir nun auch nicht, als dass ich es nicht bewältigen könnte.«
»Du weißt wohl auf alles ’ne Antwort.«
»Klar. Zumindest, wenn es um mich geht. Der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich im Hier und Jetzt lebe und dass ich das Morgen auf mich zukommen lasse. Du hingegen …«
»Du meinst also, dass ich ein Idiot bin, weil ich mir über die Zukunft Gedanken mache.«
Pia legte ihre Arme wieder um ihn und drückte ihn vorsichtig. In ihrer Stimme lag ein Anflug von Trauer und Resignation.
»Ein Idiot bist du nicht. Aber du verbringst dein Leben in deiner ach so aufregenden Vergangenheit und mit Plänen für eine noch glanzvollere Zukunft. Nur das Heute entgeht dir dabei … und ich bin ein Teil davon.«
»Warum soll es falsch sein, Pläne für die Zukunft zu machen? Ich glaube dir nicht, dass du keine hast.«
»Brauch ich nicht, denn die Zukunft bin ich. Ich gestalte sie mir so, wie ich sie haben möchte. Dieses ewige Was-wird-sein- Gequatsche geht mir auf den Keks. Völlig unlogisch. Nichts ist planbar. Ich lebe mein Leben im Hier und im Jetzt. Ich habe keinen Bock, mir täglich einen Kopf wegen morgen zu machen.«
Kilian drehte sich um: »Entweder leidest du an hoffnungsloser Selbstüberschätzung, oder du bist furchtbar einfältig.«
»Zumindest erlaubt mir meine maßlose Selbstüberschätzung ein Leben, mit dem ich zufrieden sein kann. Und darüber hinaus nimmt sie mir die Angst vor der Zukunft. Ich weiß, in meiner Einfältigkeit merke ich natürlich nicht, dass ich mir alles nur einbilde. Ich habe natürlich auch noch nicht erkannt, dass Zufriedenheit der größte Feind persönlicher Entwicklung ist. Weißt du, ich finde, du übernimmst dich mit der Bewertung meiner Person.
Aber ich tue dir einen Gefallen und setze noch einen drauf, dann kannst du dich noch mehr bestätigt fühlen: Ich bin Medizinerin und habe Einblick in Zeit, Raum und das göttliche Werk. Daraus schöpfe ich meine Überzeugung.«
»Das göttliche Werk? Ha! Bei deinen Toten vielleicht«, grinste Kilian und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Dann löste er sich aus der Umarmung und ging zu einer grässlich blauen Dixi- Toilette, die im hinteren Eck des Dachbodens untergebracht war.
»Tote verraten meist mehr als die Lebenden, mein Schatz!«, giftete sie Kilian beleidigt nach.
»Mag sein. Dein rechtsmedizinisches Interesse für Leichen leuchtet mir ja noch ein, aber wie steht’s mit den Lebenden? In deiner Gruft hast du vermutlich große Probleme, dein Leben so zu gestalten, wie du es dir wünschst – bei all den aufgeschnittenen Leibern, dem stinkenden Gedärm, den zersplitterten Knochen, dem verwesten Fleisch. Was verraten dir denn die Toten über das Leben?«
Kilian stieg in die enge Dixi, öffnete den Deckel und blickte in den nach Chemo-Veilchen riechenden Schlund hinunter. Von der Pizza nebst
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