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Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall

Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall

Titel: Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
Autoren: Roman Rausch
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thronte auf der gleichnamigen Anhöhe, von der man weit übers Land blicken konnte. Erste Sonnenstrahlen brachen durch den verhangenen Himmel auf die Ostseite der Burg. Es war viel Betrieb dort oben. Zwei Kräne hievten schweres Material von der äußeren Mauer in den Burggraben. Für den anstehenden Empfang der EU-Delegationen wollten sich der Minister- und der designierte Regierungspräsident nicht lumpen lassen. Ein Schauspiel ganz besonderer Art sollte es für den Eröffnungsabend der dreitägigen Sitzung zur europäischen Sicherheitspolitik geben. Um was es genau bei dem Spiel ging, blieb im Unklaren. Spekuliert wurde viel, aber niemand schien Konkretes zu wissen. Die exponiert gelegene Festung Marienberg war für ein Schauspiel der besonderen Art genau der richtige Ort. Viele Angriffe hatte sie in ihrer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte gesehen. Als wehrhafter Sitz für keltische, fränkische, fürstbischöfliche und letztlich bayerische Herren war sie stets begehrt gewesen. Mächtige Maueranlagen nach allen vier Seiten hin und der steil abfallende Marienberg waren Garanten für verlustreiche Eroberungsversuche.
    Für Kilian blieb das düstere Geschichte, die er mehr oder weniger erfolglos in seinen Schuljahren über sich hatte ergehen lassen müssen. Das Einzige, was ihn damals an der Wehrburg interessierte, waren die geheimen Gänge im Festungsberg. Sie sollten Gerüchten nach zahlreicher und intakter sein, als man gemeinhin annahm. In den Kinderjahren hatte er einige mit seinen Kumpels erkundet, wenn ein Festungsarbeiter gedankenlos die Tür unbeobachtet gelassen hatte. Dann wagten sie die gefährliche Reise in den Berg. Immer auf der Suche nach verschwundenen Schätzen und vergessenen Geheimtüren und Gängen, die ins Innere der Burg führen sollten. Gefunden hatten sie beides nicht. Stattdessen setzte es Hiebe von seiner Mutter, wenn sie ihn nach der »Gefangennahme« bei der Burgverwaltung abholen musste. Doch die Schläge mit dem Holzlöffel waren ihm egal. Er spürte sie nicht einmal. Die mausgraue und speckig abgewetzte Lederkniebundhose war seine Rüstung. Sie schluckte jeden Schlag und ließ rabiate Erziehungsmethoden scheitern. Sie war auch sein Kampfanzug bei Straßenkeilereien und sein Schlitten an winterlichen Hängen. Kein Stein, keine Wurzel und kein Hieb konnten ihr und ihm ernsthaft Schaden zufügen. Ihrem Träger gab sie den Nimbus der Unverwundbarkeit, bis die Erfindung von bruchsicheren Plastiklöffeln diese glorreiche Zeit schmerzvoll beendete. Fortan galt es, diese Erfindung des Teufels täglich neu vor dem Zugriff der Mutter zu verbergen. Doch lächerlich geringe Preise für ein Dreier- oder Fünferpack belasteten die Haushaltskasse nur unwesentlich. Neue Strategien mussten her. Die erste Jeans, die er mit elf Jahren hoffnungsfroh trug, begrub jede weitere Überlegung dieser Art. Bereits das kleinste Delikt, das Ausreißen einer Tasche oder ein Schlitz im Hosenbein, wurde strengstens geahndet. Durch den dünnen Baumwollstoff spürte er die Kraft seiner Mutter wie nie zuvor. Selten, dass eine Erfindung so jugendfeindlich war, resümierten er und seine Kumpels einhellig. Kilian brach mit dem Glauben in den technischen Fortschritt und streifte sich die alte Lederhose über. Doch auch sie schien sich plötzlich gegen ihn verschworen zu haben. Die Beine konnte die alte Rüstung noch fassen, aber der Bund war geschrumpft, und so löste sich die Bande auf. Irgendwo auf dieser Welt würde sie auf einem Flohmarkt hängen, wo sie irgendein Junge entdecken konnte. Wenn er schlau genug war, würde er nicht eher Ruhe geben, bis seine ahnungslose Mutter sie ihm kaufte.
    Haut an Haut drückte sich Pia an Kilian heran.
    »An was hast du gerade gedacht?«, fragte sie.
    »Nichts«, antwortete er.
    »Na, komm. Erzähl. Woran hast du gedacht, als du auf die alte Festung hinaufgeschaut hast?«
    »An nichts. Ehrlich.«
    »Es gibt nicht nichts. Man denkt immer über etwas nach.«
    »Nichts Wichtiges.«
    »Ich will auch die unwichtigen Dinge hören, bevor sie sich zu etwas Wichtigem aufschaukeln. Katastrophen beginnen immer im Kleinen.«
    Ja, da hatte sie Recht. Seine ganz persönliche Katastrophe hatte vor einem halben Jahr begonnen, als er hierher in seine Heimatstadt zwangsversetzt wurde. Wenn er damals im Hafen von Genua nur abgedrückt, Galina auf der Flucht erschossen hätte, so wie es sein Auftrag und sein Vorgesetzter Schröder von ihm verlangt hatten, dann wäre ihm die Rückkehr nach Würzburg
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