Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
Karton von letzter Nacht war nichts übrig geblieben. Der Sondermischung mit scharfen Haushaltsreinigern konnte auf Dauer nichts widerstehen. Der zähe Brei nahm alles ein, löste es auf und überraschte mit neuen Farben. Kilian nannte es Evolution. Er liebte dieses Gurren, Zischen und die wechselnden Strömungen. Es lebte in seinen Augen.
Alles andere in ihm und um ihn herum war dagegen erstarrt und leblos. Als er pinkelte, gärte und rumorte es in der Suppe. Aufsteigende Blasen zerplatzten, Mischungen fanden und verbanden sich. Eine Eruption war an diesem Tage nicht zu befürchten. Der kritische Zustand war noch nicht erreicht.
»Ich bestehe darauf: Tote sagen mehr als die Lebenden. Wenn ich mich an die Reaktionen auf die vermeintlichen Vorfälle im Residenzgarten und auf dem Friedhof erinnere, war es mucksmäuschenstill um deine lebenden Freunde geworden. Selbst dein viel gerühmter Schröder hat dich hängen lassen. Meine Leichen wären im Gegensatz dazu regelrecht geschwätzig. Sie würden Hinweise geben und schließlich mit dem Finger auf den Mörder zeigen. Darauf kannst du dich verlassen. Todsicher.«
»Wo keine Leiche, da kein Fall. Funkstille«, brummelte Kilian.
Er klang nicht sonderlich überzeugt. Er plapperte nach. Die Ermittlungen im Residenzgarten und auf dem Friedhof hatten ihn viel Kredit gekostet. Augenzeugen hatten sich widersprochen, Leichen waren verschwunden und verwertbare Spuren im wahrsten Sinne des Wortes im Sand verlaufen. Keiner hatte ihm glauben wollen. Selbst Schröder, der im Residenzgarten mit dabei gewesen war und die Vorkommnisse zum Teil hatte bestätigen können, hatte letzten Endes die Einstellung der Ermittlungen unterstützt. »Wo-keine-Leiche-da- kein-Fall.« Basta. Nur Pia hatte zu ihm gehalten. Zusammen hatten sie Meter für Meter, Grab um Grab abgesucht. Kein Tropfen Blut oder sonst irgendeine andere Spur war auffindbar gewesen, geschweige denn irgendeine Leiche. Ein Ergebnis zeitigte die gemeinsame Suche dann doch: Sie hatten zueinander gefunden.
»Was wirst du noch dagegen unternehmen?«, fragte sie.
»Nichts.«
Kilian zwängte sich an ihr vorbei und suchte seine Klamotten. Auf, über, unter dem Bett und im Gebälk waren die Kleidungsstücke verstreut.
»Was nichts? Du willst doch nicht aufgeben?«, ermutigte sie ihn.
»Solange ich nichts Verwertbares in der Hand habe, lasse ich die Finger davon. Den Mist der letzten Wochen brauch ich kein zweites Mal. Sollte aber eine der verschwundenen Leichen aus dem Totenreich zurückkehren, dann werden sie was erleben. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Aber die können ewig verschwunden bleiben. Je länger du wartest, desto schwieriger wird eine Rekonstruktion. Totschweigen hilft nichts. Du musst weitersuchen. Wenn wirklich etwas passiert ist, dann ist da auch etwas. Irgendwo. Wir haben es bloß noch nicht gefunden.«
»Keine Sorge. Tote stehen auf, Gräber öffnen sich. Das ist alles schon passiert. Und ich habe das krumme Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern wird.«
»Jaja. Es ist nur eine Frage des Wartens und des Standpunktes«, sagte Pia genervt. Sie hatte diese Ausflüchte in den letzten Wochen zu oft gehört.
»Richtig. Was mir allerdings noch nicht klar ist: Auf welcher Seite stehst du eigentlich? Glaubst du weiter an mein Friedhofsmärchen, oder glaubst du an dreißig Zentimeter Ermittlungsakten, die alle besagen, dass tatsächlich nichts vorgefallen ist?«
»Sag mal, bist du bescheuert? Wer ist mit dir auf Knien über den Friedhof gerutscht, wer ermutigt dich weiterzusuchen, und wer fährt den anderen übers Maul, wenn wieder eine spitze Bemerkung kommt? Dein Freund Schröder bestimmt nicht.«
»Schon gut«, gab Kilian zu.
Pia war die Einzige gewesen, die ihn ständig angetrieben hatte, nicht aufzugeben. Er wusste nicht, was in ihn gefahren war. Ein leiser und beständiger Zweifel hatte sich in ihm über die letzten Wochen gebildet. Möglicherweise hatte er sich alles doch nur eingebildet? Vermutlich wollte er einfach nur daran glauben, dass da eine Leiche war.
»Vielleicht sollte ich mal einen meiner Toten befragen. Die haben sicherlich Kontakt zu deinen verschwundenen Leichen«, sagte Pia.
»Keine schlechte Idee. Sag mir Bescheid, wenn du was hörst.« Kilian hielt ein Bündel Klamotten in den Händen und trennte seine von Pias.
»Was steht bei dir heute an?«, fragte sie, während sie den Ofen in Gang setzen wollte.
»Große Einsatzbesprechung«, antwortete Kilian emotionslos. Er zwängte sich
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