Wolfsblut
– ein armes, verlassenes Geschöpfchen mitten unter den Menschen.
Es war der ärgste Schmerz, den er je gefühlt hatte. Nase und Zunge waren von dem sonnenfarbigen Wesen, das unter den Händen des Grauen Bibers gesprungen war, versengt. Er heulte unausgesetzt, und jeder neue Klagelaut wurde von den Menschen mit lautem Gelächter begrüßt. Er versuchte den Schmerz in der Nase mit der Zunge zu lindern, aber auch diese schmerzte, und war hilfloser und heulte hoffnungsloser denn je. Dann aber begann er sich zu schämen. Er wußte, was das Gelächter bedeutete. Wie manche Tiere wissen, daß man über sie lacht, das können wir Menschen allerdings nicht begreifen; aber Wolfsblut wußte es, er fühlte sich beschämt, daß die Menschen über ihn lachten. Darum machte er kehrt und lief weg, nicht weil das Feuer ihn verbrannt hatte, sondern weil das Gelächter ihn tief verletzte. Er floh zu Kische, die am Ende des Stockes sich wie toll gebärdete, zu Kische, dem einzigen Wesen in der Welt, das mit ihm Mitleid fühlte.
Die Dämmerung brach herein und dann die Nacht, und Wolfsblut lag dicht neben der Mutter. Seine Nase und Zunge taten ihm noch weh, aber ein noch größerer Kummer peinigte ihn. Er hatte Heimweh. Er fühlte in sich eine Leere, ein Bedürfnis nach der Ruhe, nach der Stille in der Höhle am Flußufer. Das Leben war zu geräuschvoll geworden, es waren zu viele Menschen, zu viele Männer, Frauen und Kinder da, die alle lärmten und ihn störten. Auch zankten die Hunde unaufhörlich und stritten sich und machten tollen Lärm. Die ruhige Einsamkeit seines bisherigen Lebens war dahin; hier war sogar die Luft mit Leben erfüllt. Es summte und lärmte beständig, die Töne wechselten fortwährend in Höhe und Tiefe, in Stärke und Schwäche, das regte ihm die Nerven und Sinne auf, machte ihn ruhelos und ängstlich und quälte ihn durch die fortdauernde Erwartung dessen, was alles geschehen könnte.
Er beobachtete die Menschen, wie sie gingen und kamen und sich im Lager umherbewegten. So ungefähr würden Menschen die Götter anschauen, die sie sich geschaffen hätten, wie Wolfsblut jetzt auf die Menschen blickte, die sich vor seinen Augen bewegten. Für ihn waren sie wirklich höhere Wesen, für seine unklaren Begriffe verrichteten sie ebenso viele Wunder, wie die Götter es für die Menschen tun würden. Sie waren mächtige Wesen, die allerlei unbekannte, geheimnisvolle Kräfte besaßen, die das Lebendige und das Leblose beherrschten, die das Bewegliche zum Gehorsam zwangen, die dem Regungslosen Bewegung erteilten und die Leben schufen, sonnenfarbiges Leben, das biß und das aus dürrem Moos und totem Reisig emporsprang. Sie zündeten Feuer an, und darum waren sie für ihn Götter!
ZWEITES KAPITEL
Die Knechtschaft
Die Tage waren für Wolfsblut reich an neuen Erfahrungen. Während Kische angebunden blieb, rannte er neugierig schauend und lernend umher. Er lernte die Gewohnheiten der Menschen schnell kennen, aber die Vertrautheit mit ihnen setzte sie in seinen Augen nicht herab. Je mehr er von ihnen sah, desto höher wuchs ihre Überlegenheit, desto größer zeigten sich ihre geheimnisvollen Kräfte, ja ihre Gottähnlichkeit.
Der Mensch hat oft das Unglück, daß ihm seine Götter vom Altare gestoßen werden oder daß sie zu Staub zerfallen; der Wolf aber oder der wilde Hund, der aus der Wildnis zu dem Menschen kommt, erfährt diesen Kummer nicht. Seine Götter sind nicht unsichtbar, nicht nebelhafte Gestalten der Phantasie, sondern greifbare Wesen aus Fleisch und Blut, denen man nicht entrinnen kann, die auf zwei Beinen und mit dem Knüttel in der Hand dastehen, bald zornig, bald liebevoll, aber immer groß, mächtig und geheimnisvoll.
So erging es auch Wolfsblut. Auch er begriff, daß er ihnen nicht entrinnen konnte, und wie seine Mutter Kische beim ersten Ruf ihres Namens ihnen gefolgt war, so lernte auch er, ihnen Gehorsam zu leisten. Er gab ihnen überall den Vortritt. Kamen sie, so ging er ihnen aus dem Wege, riefen sie, so eilte er zu ihnen; drohten sie, so duckte er sich, und hießen sie ihn gehen, so entfernte er sich schleunigst. Denn er wußte, daß hinter jedem ihrer Wünsche die Macht lauerte, ihnen Nachdruck zu verleihen, die Macht, ihm durch Püffe und Stockschläge, durch Steinwürfe und Peitschenhiebe weh zu tun. Ihnen gehörte er, wie alle Hunde ihnen gehörten, und seine Handlungen standen unter ihrem Machtgebot. Sie konnten ihn mit Füßen treten oder um sich dulden, das war ihm
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