Wolfsfalle: Tannenbergs fünfter Fall
nicht mal eine Sekunde!«
»Jetzt sei mal nicht gleich so ungeduldig. Diese kurzen amnestischen Episoden enden meistens genau so abrupt wie sie angefangen haben.« Sie schaute auf die Wanduhr links neben dem Fenster. »Diese Phasen dauern meistens weniger als 24 Stunden. Und die hast du doch schon bald um.«
»Ja, ich weiß, ich weiß. Aber allmählich müssten doch wenigstens schon mal die ersten Bruchstücke davon auftauchen, oder?«, seufzte Tannenberg.
»Nein, das passiert meistens auf einmal. Das ist so, wie wenn du das Licht einschaltest.«
Während Eva sich in einem weiteren Fachbuch stöberte, nahm Tannenberg wieder Platz. Nachdem er ein paarmal geräuschvoll ein- und ausgeatmet hatte, entschloss er sich, seine Augen ein wenig durch die nähere Umgebung wandern zu lassen. Da er mit dem Rücken zur Tür saß, blickte er zuerst direkt auf eine hinter Eva sich auftürmende Bücherwand.
Dann schwenkte sein Blick nach rechts hinüber zu einer Pinwand, auf der er zwei Karten für ein Dire-Straits-Konzert entdeckte. Natürlich wusste er sofort etwas mit den grauen Pappkärtchen anzufangen: Sie waren eines von mehreren Überraschungs-Highlights gewesen, die er sich vor knapp zwei Jahren anlässlich eines Besuchs der Kriminalpsychologin in Kaiserslautern für sie ausgedacht hatte. Entgegen seiner Planungen war dieser Abend damals jedoch völlig anders verlaufen.
Sein Blick schwebte wieder ein Stück nach links und fixierte kurz Evas angestrengt in die Lektüre versunkenes Gesicht. Danach wanderte er ein paar Zentimeter weiter nach unten. An der rötlichen Strangulierungsnarbe, die sich quer an ihrem Hals abzeichnete, verhakten sich seine Augen.
Wir haben schon einiges gemeinsam durchgestanden, dachte er.
Eva fing seinen Blick auf. »Ach, die Narbe. Normalerweise schminke ich sie mir mit einem Abdeckstift weg. Aber dir gegenüber muss ich mich ja nicht schminken und verstellen, oder mein liebes Wölfchen?« Sie griff seine Hände, streichelte sie zärtlich. »Du machst mir vielleicht Sachen.«
Tannenberg erhob sich abermals. »Also, Eva, diesmal kann ich wirklich nichts dafür.«
»Das wird sich alles bestimmt schon bald aufklären.«
»Aber was ist, wenn meine Erinnerungen zurückkehren ...« Er sog in einem tiefen Zug die etwas abgestandene Raumluft ein, schluckte mehrmals. »Und ich wirklich die Frau den Balkon hinuntergeworfen habe?«
»Das kann ich mir aber nicht vorstellen, Wolf«, versuchte Eva zu trösten.
Er schniefte, putze sich schnell die Nase. Dann legte er seine Arme um Eva und zog sie ein wenig zu sich heran. Aber kaum einen Wimpernschlag später drückte er sie schon wieder von sich weg.
»Quatsch! Ich hab doch dieses gelbe Büchlein gefunden. Das hab ich ja völlig vergessen«, sagte er mit weit aufgerissenen Augen.
Eva krauste die Stirn. »Was denn für’n Buch?«
»Ich zeig dir’s. Wo ist mein Rucksack?«
»Im Flur, glaub ich.«
Tannenberg hechtete in den schmalen Korridor, wo er vorhin direkt hinter der Tür Helm und Rucksack abgelegt hatte. Mit fahrigen Bewegungen zerrte er die Verschlüsse auseinander, entnahm das Reclambändchen und hielt es Eva, die ihm neugierig in den Flur gefolgt war, vor die Nase.
Während sie Titel und Verfasser las, kniff sie die Augenbrauen zusammen. »Leviathan. Von Thomas Hobbes.« Sie blickte an die Decke, schüttelte grübelnd den Kopf. »Hobbes, Hobbes? Wer war das nochmal?« Plötzlich schien sie etwas mit diesem Namen anfangen zu können. »War das nicht ein englischer Philosoph?«
»Ja, ja. Meine ich auch. Aber mehr weiß ich von ihm nicht.«
»Ich auch nicht. Nur, was ist denn eigentlich so Besonderes an diesem Büchlein?«
»Das Besondere daran ist, dass ich nicht weiß, wie es in meinen Besitz gekommen ist.«
»Wolf, du sprichst in Rätseln.« In Evas Mimik spiegelte sich nur allzu deutlich das, was sie gerade dachte.
»Eva, es gibt keine andere Erklärung dafür: Irgendjemand muss es mir in der Wohnung in die Jacke gesteckt haben.« Er kniff die Lippen fest aufeinander, knetete nachdenklich sein Kinn. »Und zwar in der Zeit, in der ich bewusstlos war.«
»Was? Wie kommst du denn auf solch eine verrückte Idee? Wer sollte denn so etwas tun? Und vor allem, warum?«
»Du hast ja völlig recht, Eva. Ich versteh’s ja auch nicht!« Tannenberg schüttelte den Kopf, gestikulierte wild. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich habe dieses Buch wirklich vorher noch nie in meinem Leben gesehen, geschweige denn besessen. Und als ich vorhin
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