Wolfsfeder
seltsame Gebilde am Stamm der
Randfichte erfasste. An einem Aststummel hing ein bis auf die Spitze
vollständig gefegter, in Ovalform zusammengebundener frischer Fichtenzweig.
»Ein Warnbruch«, flüsterte von Bartling
beeindruckt. An Maike gewandt, ergänzte er: »Der soll vor Gefahren warnen, zum
Beispiel vor einer Falle.«
»Tatsächlich, ein Warnbruch.« Mendelski
war näher getreten, um den Zweig genauer zu betrachten. »Das Harz ist noch
frisch. Doch vor was soll uns dieser Bruch warnen?«
»Eine Falle gibt’s hier nicht«, meinte von
Bartling. »Ich meine eine Falle im herkömmlichen Sinne, im jagdlichen.«
»Es sei denn, da hat jemand gerade ganz
frisch eine Falle aufgestellt«, widersprach Maike.
»Halte ich für unwahrscheinlich«,
entgegnete Mendelski.
»Bleibt nur die Hütte. Ist doch
naheliegend, oder?«
Der Kommissar zögerte einen Augenblick.
Dann sagte er: »Also los. Schauen wir nach.«
* * *
Die Luft wurde langsam knapp.
Am meisten Sorgen bereitete ihr das
Klebeband im Gesicht. Wiegand hatte es in aller Eile auf ihren Mund gepresst,
um sie am Schreien zu hindern. Sicherheitshalber hatte er den Klebestreifen
gleich mehrmals um Nacken und Kinn geschlungen. Irene Hogreve hatte es schnell
aufgegeben, sich zu wehren.
Im Eifer des Gefechts mit dem Gärtner war
das Klebeband vor ihre Nasenlöcher gerutscht. Es drohte, ihr auch die
Luftzufuhr durch die Nase abzuschneiden. Sosehr sie auch Grimassen schnitt, den
Unterkiefer auf- und zuklappte – soweit es das Klebeband überhaupt
zuließ – oder den Kopf schüttelte: Das Klebeband blieb, wo es war, und schränkte
ihre Atmung erheblich ein.
Von den Klebebändern an den auf dem Rücken
zusammengebundenen Händen und an den Füßen ging dagegen weniger Gefahr aus. Sie
war zwar in ihrer Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt, doch diese Fesseln
wirkten nicht unmittelbar lebensbedrohlich.
Mit all ihrer Willenskraft zwang sie sich,
ruhig zu bleiben. Jede Panik würde den Sauerstoffbedarf unnötig in die Höhe
treiben und ihre Situation verschlimmern.
Denn ihr blieb nur eine realistische
Chance: Sie musste bei klarem Verstand bleiben, bedächtig ein- und ausatmen und
überlegen, was zu tun war.
Konzentriert analysierte sie ihre Lage:
Sie lag gefesselt und geknebelt auf dem staubigen Boden im hintersten Winkel
des Holzschuppens. Um sie herum war es stockfinster, da der Schuppen kein Fenster
besaß und das spärliche Tageslicht, das anfangs noch durch die eine oder andere
Ritze in der Bretterwand geschimmert hatte, inzwischen geschwunden war.
Trotz ihrer misslichen Lage hatte sie noch
registriert, dass Wiegand erst beim zweiten Anlauf, den Schuppen unbeobachtet
zu verlassen, erfolgreich gewesen war. In seiner Eile hatte er die Schuppentür
von außen lediglich zugeschoben, aber nicht abgeschlossen.
Ihrem Zeitgefühl zufolge musste es
inzwischen ungefähr sieben Uhr abends sein. Vor einer Weile hatte sie gehört,
wie mindestens zwei Personen an dem Schuppen vorbeigingen. Die Stimmen kamen
ihr fremd vor; deshalb vermutete sie, dass es sich um Beamte der Kripo Celle
gehandelt haben musste. Am Nachmittag hatte es von denen im Garten nur so
gewimmelt. Vielleicht waren sie ja mittlerweile mit ihren Untersuchungen
fertig – und wieder abgerückt.
Sie fragte sich, ob man schon nach ihr
suchen würde. Derweil bugsierte sie sich durch wiederholtes mühsames Aufbäumen
aus der unbequemen Bauchlage in eine etwas bequemere Seitenlage. Wahrscheinlich
war Konrad Kreinbrink längst zu Hause eingetroffen; der Hausherr würde sich
bestimmt wundern, wo sie steckte. Er konnte doch davon ausgehen, dass sie, die
Zuverlässigkeit in Person, es nie wagen würde, ihren Arbeitsplatz –
sprich: das Kreinbrink’sche Haus und Grundstück – zu verlassen, ohne sich
vorher abzumelden.
Auch Kai machte sich bestimmt ihretwegen
schon Sorgen. Wie sie ihn kannte, würde er nicht zögern, überall herumzulaufen
und nach ihr zu schauen. Der gute Junge … Vielleicht würde er ja auch zum
Holzschuppen kommen …
Sie rief sich zur Ordnung und verwarf den
Gedanken. Kein Mensch käme auf den Gedanken, sie hier zu suchen. Das hatte sie
nun davon, dass sie sich unerlaubterweise an den Sachen anderer Leute zu schaffen
gemacht hatte.
Eine lange, einsame, kalte und sehr
unbequeme Nacht stand ihr bevor, wenn sie nicht selbst in Aktion treten würde.
Sie durfte einfach nicht länger so passiv herumliegen und auf Hilfe von außen
hoffen.
Also beschloss sie, sich aufzuraffen,
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