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Wolfsfeder

Wolfsfeder

Titel: Wolfsfeder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Oehlschläger
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ihr verbliebene Energie zu mobilisieren und ihre Befreiung selbst in die Hand
zu nehmen.
    Aber wie?
    Tastend hatte sie längst ihre unmittelbare
Umgebung erkundet. Da gab es nur Holzscheite, ein paar Bretter und jede Menge
Dreck. Weit und breit war nichts zu spüren, woran man eventuell das Klebeband
hätte durchscheuern können.
    Dann erinnerte sie sich, in der Nähe des
Wiegand’schen Werkzeugschrankes diverses Gartenwerkzeug wie Spaten, Harke,
Astkneifer und dergleichen gesehen zu haben. Da musste sie hin, um das
Klebeband an ihren Händen bearbeiten zu können. Sie schätzte die zu
bewältigende Strecke auf fünf bis sechs Meter.
    Entschlossen startete sie einen Versuch,
sich durch raupenähnliches Robben auf dem Boden fortzubewegen. Doch das klappte
nicht, ohne die Mithilfe der Arme und Beine kam sie nicht vom Fleck. Verdrossen
blieb sie liegen, denn wieder wurde ihr die Luft zum Atmen knapp.
    Da kam ihr die Idee, ihren Körper zu
strecken und sich rollend fortzubewegen. Sie machte sich lang, so gut es ging,
und rollte schräg und unbeholfen über den Boden – aber sie kam vorwärts.
    Sie schlug sich die Hände wund, stieß
mehrmals schmerzhaft mit dem Kopf gegen herumliegende Holzscheite, scheuerte
sich die Knie blutig – doch schließlich erreichte sie den Werkzeugständer.
Von der ungewohnten Anstrengung und der Atemnot wurde ihr fast schwarz vor
Augen.
    Reiß dich zusammen, rief sie sich selbst
zur Räson. Ihre Finger ertasteten eine Axt, die neben einer Motorsense auf dem
Boden stand. Zum Glück wies die scharfe Kante zu ihr. Vorsichtig begann sie,
das Klebeband an ihren Handgelenken an der Schneide der Axt zu reiben. Es war
schwierig, quasi blind die Stelle zu erwischen, wo das geschliffene Metall nur
die Fesseln, aber nicht ihre Haut oder gar die Pulsadern durchtrennen würde.
    Nach fünf endlos scheinenden Minuten
ungewohnter Gymnastik gab das Gewebe um ihre Hände nach. Fast schon in Panik
zerrte sie sich das klebrige Band vom Kopf und zerriss die Fesseln an den
Füßen. Sie war frei.
    Auf dem schmutzigen Boden sitzend, atmete
Irene Hogreve erst einmal tief durch. Es dauerte eine Weile, bis sie durch
Massieren die Durchblutung und Geschmeidigkeit ihrer erstarrten Finger halbwegs
wiederhergestellt hatte. Dann befühlte sie den tauben Mund, ertastete eine
stark geschwollene Oberlippe und spürte den metallischen Geschmack von Blut.
Jetzt, wo sie sich wieder bewegen konnte, machte sich brennender Schmerz an
Händen, Ellenbogen und Knien bemerkbar, wo ihre ungelenken Bewegungen zu
etlichen Hautabschürfungen geführt hatten.
    Endlich zog sie sich am Schrank hoch und
kam mühselig auf die Beine. Mit unsicheren Schritten tastete sie sich zur Tür
vor.
    Man gut, dass der Wiegand die Schuppentür
nicht noch verriegelt hat, freute sich die Haushälterin. Sie drückte beherzt
den Griff hinunter und spürte, dass sich die Tür mit einem Knarren öffnen ließ.
    Draußen schlug ihr kühle und frische
Abendluft entgegen. Sie hob den Kopf und lauschte dem leisen Rauschen im
Kronendach der Eichen über ihr. Eine Amsel, die auf dem Hackeklotz gesessen
hatte, flog laut schimpfend davon.
    Der Gedanke, um Hilfe zu rufen, kam ihr
erst gar nicht. Jetzt, wo sie das Schwierigste hinter sich hatte, würde sie die
restlichen Meter bis zum Haus auch noch schaffen.
    Obwohl der bewölkte Himmel Mond und Sterne
verbarg, war es hier nicht so finster wie im Schuppen, was ihr die Orientierung
erleichterte. Als sie um die Schuppenecke bog, sah sie das Haus vor sich. Im
Wohnzimmer, im Arbeitszimmer und in Kais Zimmer unter dem Dach brannte Licht.
Das Küchenfenster war dunkel.
    Durch die Waschküchentür betrat sie leise
das Haus. Ohne Licht zu machen – schließlich kannte sie im Wirtschaftsraum
jede Fliese, jedes Utensil –, schlich sie in die kleine Toilette, die dort
eigens für sie eingebaut worden war. Erst nachdem sie die Tür hinter sich
verriegelt hatte, schaltete sie das Licht ein.
    Sie erschrak bis ins Mark.
    Das Spiegelbild zeigte ein schmutzstarres,
bleiches Gesicht.
    Unter wirrem, staubverklumptem Haar
schauten sie zwei tief in den Höhlen liegende, blutunterlaufene Augen an. An
Stirn, Wangen und Nase war die Haut aufgekratzt, blutige Schrammen unterbrachen
eine grauschwarze Dreckschicht, die Oberlippe war aufgeplatzt.
    Schockiert schaute sie an sich hinunter:
Körper und Kleidung hatten ebenfalls arg gelitten. Jeder Geisterbahn hätte ich
so alle Ehre gemacht, dachte sie bitter.
    Angewidert knipste sie das

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