Wolfsfeuer (German Edition)
beibringen konnte.
Also unterrichtete Charlie sie, und Alex lernte – Werwölfe zu töten, Addition, Subtraktion – , und wann immer sich zwischen zwei Aufträgen eine kleine Pause ergab, spielten sie Fangen, so wie früher, als sie noch ein Zuhause gehabt hatten.
In Alex’ Augen brannten Tränen, die sie nicht vergießen durfte. Denn wenn Barlow sähe, dass sie um ihre Eltern weinte, wüsste er, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
Wenn Menschen zu Werwölfen werden, erlischt ihre Menschlichkeit. Sie verlieren jeden Bezug zu ihrer Familie, ihren Freunden, zu allem, außer zu sich selbst.
Alex studierte Barlow aus dem Augenwinkel, während sie das Foto ihres Vaters unter den Sitz schob.
Was also stimmte mit ihm nicht?
Julian war innerlich aufgewühlt, doch er ließ es sich nicht anmerken. Er hatte vor langer Zeit – noch bevor er zu dem wurde, was er war – gelernt, seine Gefühle zu beherrschen. Gefühle waren eine Schwäche, die er sich nicht leisten konnte. Man musste sich nur ansehen, was ihm seine Liebe zu Alana eingebracht hatte.
Hier war er nun mit dieser Wolfsfrau , die ihn völlig aus der Fassung brachte.
Der Ausdruck entlockte ihm ein leises Lächeln. Er hatte mehrere Jahrzehnte gebraucht, um zu begreifen, dass man sich nur einfügen konnte, indem man den Lokaljargon lernte und benutzte. Selbstredend hatte er es inzwischen nicht mehr nötig, sich irgendwo einzufügen, darum konnte er vermutlich ebenso gut darauf verzichten.
Er hatte keine Ahnung, warum er sie zu dem Kampf ermutigt hatte. Vielleicht, um herauszufinden, zu welcher Leistung Alex in menschlicher Gestalt fähig war. Er musste so viel wie möglich über sie in Erfahrung bringen, bevor er ihr Zugang zu seinem Allerheiligsten gewährte. Ganz gewiss hatte er diese Jungen nicht wegen der unterschwelligen Traurigkeit, die sie wie ein Hauch von Parfüm umgab, bewusstlos geschlagen.
Julian krampfte die Finger um das Lenkrad. Sie war noch immer traurig. Er konnte es riechen.
Es hatte ihn mehrere Jahrhunderte gekostet, seine menschlichen Sinne zu verfeinern, bis sie fast so scharf waren wie seine wölfischen. Bei einem Wikinger konnte man sich nun mal darauf verlassen, dass er sich an die jeweiligen Umstände anpasste. Es war eins der Dinge, in denen er unschlagbar war.
Trotzdem war seine Sensorik noch nie so ausgeprägt gewesen wie jetzt. Zorn, Gewalt, Angst konnte er immer riechen. Das war einfach. Aber er entsann sich nicht, je zuvor Traurigkeit gerochen zu haben. Auch nicht bei Alana.
Julian fuhr zu dem schäbigen Motel in der Nähe des LAX , parkte an der Rückseite und stieg aus.
Alex folgte ihm. »Was ist los?«
»Du kannst in diesem Zustand nicht in ein Flugzeug steigen«, antwortete er.
Das Blut an ihrem Körper war durch das T-Shirt und die Jogginghose gesickert und erzeugte ein makaberes Tupfenmuster. Der Kampf hatte mehrere Löcher und eine weitere Schmutzschicht hinzugefügt. Sie trug noch immer keine Schuhe.
Alex folgte ihm in ein düsteres, feuchtkaltes Zimmer, in dem er sich nach seiner Ankunft vor einigen Tagen eingemietet hatte. Es roch nach den Ausdünstungen hundert Fremder. Julian konnte es nicht erwarten, nach Hause zu kommen.
»Geh duschen«, verlangte er.
»Was, wenn ich keine Lust habe?«, gab sie zurück, kam seinem Befehl aber bereits nach.
Sobald sie die Badezimmertür verriegelt hatte – eine unsinnige Vorsichtsmaßnahme, denn im Ernstfall könnte keine Tür der Welt ihn aufhalten – , steckte Julian den Autoschlüssel ein und ging noch mal zum Lieferwagen.
Er setzte sich auf den Beifahrersitz, schob die Hand darunter und zog das Foto heraus, das Alex dort versteckt hatte. Ein Mann – die gleichen Augen, das gleiche Lächeln, nur die Haare im Vergleich zu Alexandras hellbraunen eher Richtung Rotbraun tendierend. Er war mittelgroß, dünn und langgliedrig, hatte große, harte, tüchtige Hände und trug eine Goldrandbrille.
Charlie Trevalyn – Alex’ verschollener Vater.
Julian wusste, dass der Mann ermordet worden sein musste, höchstwahrscheinlich von Werwölfen, wenn man Alexandras erbitterten Hass auf sie bedachte. Natürlich existierte kein Bericht darüber. Ebenso wenig wie über ihre Mutter und das, was ihr zugestoßen war. Wozu auch?
Manchmal wurden tödliche Werwolf-Attacken tollwütigen Tieren zugeschrieben, doch in der Regel verschwanden die Opfer spurlos. Und wenn sie das taten, hatte oftmals Edward Mandenauer die Hände im Spiel.
Julian verstaute das Foto wieder dort, wo er es
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