Wolfsflüstern (German Edition)
tat, und seit seiner Ankunft ahnte Matt, wer dieser Jemand war.
Er würde jetzt zu ihr gehen, ihr die Wahrheit gestehen und diese Expedition zu ihrer beider machen. Eine Welle der Erregung erfasste ihn bei diesem Gedanken. Er stand auf, schob die Kopie in seine Hosentasche; dann trat er hinaus in die frostige Dunkelheit, die schon bald vom Morgengrauen vertrieben würde.
Der Himmel hatte gerade angefangen, sich aufzuhellen. Es zeigte sich noch kein Vorbote von Farbe, sondern nur der neblige blaugraue Schleier, den die aufgehende Sonne in Vibration zu versetzen schien.
Die Feuerstelle war abgedeckt, das Lager geisterhaft still. Selbst die Pferde schienen den Atem anzuhalten. Matt jedenfalls tat es.
Eine Zeltklappe flog im selben Moment auf, als die ersten pinkfarbenen Strahlen das Blau durchdrangen. Ein Schemen bewegte sich leise durch den diesigen Morgen, vorbei an den Pferden, die nun schnauften und stampften und leise wieherten; dann blieb er, das Gesicht himmelwärts gewandt, um den anbrechenden Tag zu begrüßen, in etwa fünfzig Metern Entfernung stehen.
Bei Ausritten in die Wildnis stand Gina jeden Morgen vor allen anderen auf. In all den Jahren, seit sie diese Touren führte, war sie nicht ein einziges Mal später als der erste Gast auf den Beinen gewesen.
Gina liebte es, die Sonne aufgehen zu sehen. Es erdete sie für den Tag und rief ihr ins Bewusstsein, warum sie hier war, wofür sie so hart arbeitete.
Das Einzige, was zählte, war dieses Land.
»Störe ich?«
Gina verspannte sich, doch als sie die Stimme erkannte, wurde sie wieder locker. Sie hatte geglaubt, dass sie hier rausgekommen war, um allein zu sein, doch jetzt realisierte sie, dass sie es getan hatte, um ihn zu treffen.
»Nein.« Sie drehte sich um und lächelte, als sie den noch immer verschlafenen, verstrubbelten Teo erblickte. Er hatte versucht, seine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden, aber sie bildeten noch immer ein einziges Wirrwarr. Offensichtlich hatte er eine unruhige Nacht hinter sich. Gina fragte sich, ob er sie in Gedanken an sie verbracht hatte.
»Lust, den Sonnenaufgang anzusehen?«, lud sie ihn ein.
Als er nicht reagierte, streckte sie ihm die Hand hin, und wie selbstverständlich nahm er sie. Matt schien die Notwendigkeit, Stille zu bewahren, instinktiv zu verstehen. Und er schien Ginas Ehrfurcht vor der fast mystischen Schönheit der Geburt dieses Tages zu teilen.
Menschen konnten enttäuschen – Eltern, Freunde, Partner, Mitarbeiter. Ja, man konnte sich sogar selbst enttäuschen.
Banken enttäuschten. Ernten enttäuschten. Ehen enttäuschten.
Aber die Sonne … die enttäuschte niemals. Sogar wenn kobaltfarbene Wolken den Himmel verschleierten, war die Sonne immer da, gleich dahinter, nur darauf wartend hervorzubrechen. Das Mindeste, was Gina tun konnte, war, sie zu begrüßen.
So standen sie Hand in Hand und in ehrfurchtsvollem Schweigen nebeneinander und warteten auf das Ende des Naturschauspiels. Gina atmete tief ein, Teo atmete aus.
»Danke«, sagte er, und das Staunen in seiner Stimme verriet, dass sie sich nicht geirrt hatte. Er begriff vollkommen, was das hier war.
Sie hatte ihm einen Teil ihrer selbst gezeigt, den nur wenige andere je zu sehen bekamen.
Für einen Moment um Worte verlegen, akzeptierte Gina seinen Dank mit einem stummen Nicken. Sie hielten noch immer Händchen. Sie wollte nicht loslassen. Da war etwas an Matt, das ihre Seele berührte.
»Die Sonne«, brachte sie schließlich heraus. »Sie ist …«
»Magisch«, vollendete er. »Strahlend und wunderschön, immer wieder verschieden und trotzdem ein und dieselbe. Ein Mysterium und ein Fixpunkt.«
Konnte er ihre Gedanken lesen, in ihr Herz blicken und in ihr Bewusstsein? Kein Wunder, dass sie ihn nicht loslassen konnte.
Lächelnd drückte Teo ihre Hand, seine Augen hinter den Brillengläsern wirkten fast katzenartig im Morgenlicht. »Du weißt, dass die Azteken die Sonne verehrt haben?« Er wandte das Gesicht wieder den Strahlen zu. »Ich kann nachvollziehen, warum.«
Azteken . Was war nur an diesem Wort, dass Gina sich plötzlich irgendwie nervös fühlte?
Ein Heulen zerriss die morgendliche Stille und lenkte beider Aufmerksamkeit vom Himmel als auch voneinander weg. Jeder Gedanke an längst ausgestorbene, die Sonne anbetende Indianer verflüchtigte sich, als Gina den Kopf zur Seite legte und lauschte.
Giiiiiiii-naaaaaaa!
»Ich dachte, die Wölfe würden bei Tagesanbruch nicht heulen«, murmelte Teo.
Sie schrak zusammen
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