Wolfsflüstern (German Edition)
passiert war.
»Vater kam, um ein Pferd zu holen und den Leichnam zu bergen. Doch als er dorthin zurückkehrte, war er nicht mehr da.«
»Irgendwelche Spuren?«, wollte Jase wissen. Seine Mutter nickte. »Welche?«
Sie kniff die Brauen zusammen. »Was für welche?«
»Von Stiefeln? Von Schuhen? Von einem Mann? Einer Frau? Ein Paar? Oder zwei?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wo ist Großvater?«
»Er hat sein Gewehr geholt, danach hat er sich den ganzen Tag nicht mehr blicken lassen.«
»Habt ihr irgendwelche Wölfe gesehen?«, fragte Gina.
»Nicht, bevor Juan starb. Aber seitdem ist da einer, und er beobachtet das Haus. Darum ist Isaac mit dem Gewehr losgezogen. Er sagte, dass diese Kreatur Juan getötet hat und dass sie dafür sterben muss.«
Die anderen Gäste kamen einer nach dem anderen ins Haus. Fanny rieb sich die Hände an ihrer Schürze, und ihre Miene entspannte sich. »Ich muss wieder in die Küche. Bestimmt sind alle hungrig.« Sie betrachtete das Grüppchen, das sich in der Diele drängte. »Wo sind die anderen zwei?«
Amberleigh ächzte. Melda keuchte. Dann weinten beide.
Oh, verdammt .
Gina sah flehentlich zu Matt. Er verstand den Wink, trat zu Melda und legte den Arm um sie, was Gina mit einem finsteren Blick quittierte, weil er sich die Einfachere der beiden ausgesucht hatte, bevor sie selbst sich Amberleighs annahm. Dann gab sie Jase ein Zeichen, woraufhin er seine Mutter beiseitenahm und ihr erklärte, dass das, was auf der Ranch passiert war, sich andernorts zweifach wiederholt hatte.
Als Fanny in der Sprache der Ute vor sich hin zu murmeln begann, bugsierte ihr Sohn sie und die anderen den Flur hinunter und in die Küche.
»Wir müssen sie …«, Gina nickte mit dem Kinn zu Amberleigh, die sich wie ein Baby an ihr festklammerte, »… in die Stadt bringen.«
Matt nickte. Je eher, desto besser .
»Aber lass uns warten, bis alle sich gewaschen haben und ein wenig zur Ruhe gekommen sind.«
Matt legte den Kopf schräg, dabei tätschelte er Melda, die noch immer an seiner Schulter weinte. »Hältst du das für eine gute Idee?«
»Besser, als eine traumatisierte, schlammverkrustete Frau in die Stadt zu schleifen und sie einfach …« Sie formte die nächsten Worte lautlos mit den Lippen: dort zu lassen . »Abgesehen davon müssen wir mit der Polizei sprechen. Und ich würde es vorziehen, dabei nicht Matsch über das ganze Revier zu verteilen.«
Matt teilte ihre Meinung nicht unbedingt. Er fand, dass ihr Erscheinungsbild ihrer Geschichte nur Glaubwürdigkeit verleihen würde. Nur … was war ihre Geschichte?
»Was willst du ihnen erzählen?«
Mit der gehorsamen Amberleigh auf den Fersen stieg Gina die Treppe hinauf. »Gib mir eine Stunde«, sagte sie. »Mir fällt schon etwas ein.«
Dreißig Minuten später stand Gina unter dem warmen Strahl der Dusche und ließ Schmutz und Erde in den Abfluss sickern. Zu schade, dass sich ihre Verwirrung nicht ebenso leicht fortspülen ließ.
Sie hatte befürchtet, zusammen mit Amberleigh duschen zu müssen, aber offensichtlich siegte deren Sauberkeitsbedürfnis über den Wahnsinn, denn kaum dass das Mädchen die sanitären Einrichtungen erblickte, hörte es auf, zu wimmern, und riss sich die Klamotten vom Leib.
Gina saß auf dem Bett, bis Amberleigh – blass und mit violetten Schatten unter den Augen, aber wenigstens lutschte sie nicht mehr am Daumen – in ein Handtuch gewickelt aus dem Bad kam und sie rauswarf.
»Ich will nur schlafen«, sagte sie. »Geh weg.«
Noch bevor Gina aus der Tür war, schnarchte Amberleigh schon. Vielleicht war Schlaf das beste Heilmittel. Sie konnten sie auch morgen noch zum Arzt bringen. Vielleicht würde es Gina bis dahin gelungen sein, diese Sache zu enträtseln.
Mit einem halbherzigen Lachen zog sie den Duschvorhang auf. Diese Sache ließ sich nicht enträtseln.
Trotzdem würde sie gern ein ausgiebiges Gespräch mit Isaac führen.
Die Nacht war hereingebrochen, während sie sich um Amberleigh gekümmert hatte. Sie hörte, wie die anderen in ihre Zimmer gingen und die Duschen anstellten. Sie zog sich eine Jogginghose, flauschige Socken und ein T-Shirt über, dann machte sie sich auf die Suche nach Essen, Kaffee und ihrer Familie. Sie fand alles drei in der Küche vor.
Fanny und Jase saßen am Tisch, vor sich dampfende Suppenteller und Kaffeebecher. Fanny machte Anstalten, aufzustehen, aber Gina schüttelte den Kopf. »Ich bediene mich selbst.«
Bevor sie fertig war, kam Teo herein, seine Aufmachung fast
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