Wolfsgesang - Handeland, L: Wolfsgesang
hängende Äste vermied, die einen nicht nur erblinden lassen konnten, sondern beim Zurückschnappen auch einen höllischen Lärm machten.
Ich hatte gerüchteweise gehört, dass sie in ihrem früheren Leben eine erstklassige Rotwildjägerin gewesen war, was die Machos unter den Männern Miniwas bestimmt entzückt haben dürfte.
Wenigstens wusste sie, wie man sich mit einer Waffe durch den Wald bewegte. Ich würde mir keine Gedanken machen müssen, dass sie mir versehentlich das Gehirn wegschoss. Eine Sorge weniger.
Jessie sah mich an und zeigte nach vorn. In der Dunkelheit zeichnete sich der Eingang eines Stollens ab. Er war in einen Hügel getrieben und mit Brettern vernagelt. Ein einzelnes hing allerdings lose herunter. Zufall oder Absicht?
Zeit, das herauszufinden.
Zusammen schlichen wir uns aus dem Schutz der Bäume, wobei wir das Gebüsch nach Bewegungen und den Boden nach Spuren überprüften. Aber da war nichts.
Jessie steuerte auf den Eingang zu. Ich packte sie am Arm, und sie versuchte, sich mit finsterem Blick loszureißen, aber ich schüttelte den Kopf. Ich würde zuerst reingehen.
Ich streckte die Hand nach der Taschenlampe aus, die an ihrem Gürtel hing. Sie zeigte mir die Zunge, gab mir die Lampe aber trotzdem.
Ich musste sie nicht erst auffordern, die Lichtung im Auge zu behalten, um sicherzustellen, dass wir hier nicht umzingelt werden würden. Sie drehte sich einfach um und ließ – das Gewehr im Anschla g – den Blick über das Dickicht wandern.
Ich schaltete die schwere Dienst-Taschenlampe ein und leuchtete ins Innere des stillgelegten Bergwerks. Es starrten keine leuchtenden Augen zurück. Nichts sprang auf mich zu und machte Wuff!
So weit, so gut.
Ich zwängte mich durch den schmalen Spalt, den das herunterhängende Brett freiließ, und betrat das feuchtkalte Innere. Der Schein der Taschenlampe zeigte einen festgetretenen Lehmboden, klapprige Pfosten und eingestürztes Gebälk. Keine Kleidung, keine Schuhe, keine Geldbeutel oder Handtaschen. Verdammter Mist.
Sie waren nicht hier gewesen. Zumindest nicht heute.
Das Nichtvorhandensein eines Lagers beunruhigte mich allmählich genauso sehr wie die fehlenden Vermisstenmeldungen. Irgendwo mussten sie ein Versteck haben. Es erforderte kein Genie, um es zu finden, sondern nur Geduld und Zeit. Und mit beidem war ich nicht im Übermaß ausgestattet.
„Leigh?“
„Ja“, flüsterte ich. „Ich bin hier.“
„Siehst du was?“
„Noch nicht.“
„Beeil dich“, sagte sie leise. „Dieser Ort jagt mir eine Höllenangst ein.“
Ich musste ihr zustimmen, obwohl ich nicht genau wusste, warum. Hier war nichts Ungewöhnliches. Stillgelegtes Bergwerk, mitten im Wald. Verlassen, dunkel. Na und? Solange da keine Werwölfe waren, die es auf mein Blut abgesehen hatten, war es ein guter Tag.
Ich schob mich vorsichtig weiter ins Innere, ließ dabei den Lichtstrahl quer über den Boden vor mir wandern. Der Untergrund fiel langsam ab. Die Luft wurde kälter. Ich ging weite r – bis etwas unter meinem Stiefel knirschte.
Ich erstarrte und richtete die Taschenlampe auf meinen Fuß. Ich war auf einen Oberschenkelknochen getreten. Genauer gesagt auf einen menschlichen Oberschenkelknochen.
Igitt .
Da waren noch jede Menge mehr Knochen vor mir, verstreut zu einer abwärts laufenden, weißen Fährte.
„Jessie?“, rief ich. „Du solltest dir das hier besser mal ansehen.“
Sie verlor keine Zeit. In weniger als zehn Sekunden war sie bei mir.
„Scheint, als hättest du ein paar vermisste Personen gefunden.“
„Scheint so.“
„Verdammt. Und was jetzt?“
„Ich weiß es nicht. Wir könnten herausfinden, wer sie sind, aber das wird dauern und für einen Mordswirbel sorgen.“
„Mordswirbel? Gutes Wort.“
„Das Ganze ergibt keinen Sinn.“ Ich schüttelte den Kopf. „Warum sollten sie ihre Beute hierherschleifen? Es hat sie vorher noch nie interessiert, wen sie töten oder wo sie die Leichen zurücklassen.“
„Sie haben sich vorher auch noch nie gegenseitig aufgefressen.“
„Gutes Argument.“
„Keine Leiche, kein Beweis“, murmelte Jessie. „Wenn sie Durchreisende töten und verstecken, was noch übrig ist, sobald sie mit ihnen fertig sind, wird ihnen niemand auf die Schliche kommen. Sie könnten jagen, bis die ganze Stadt ausgerottet ist. Nur, dass das vielleicht doch verdächtig wirken würde.“
„Würde es das?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das Ganze ergibt keinen Sinn. Ein Werwolf ist clever, aber er ist und bleibt
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