Wolfsgesang - Handeland, L: Wolfsgesang
hol mein Gewehr.“
Jessie verschwand im Schlafzimmer. Ich vermutete, dass wir jagen gehen würden. Nachdem ich sie zuvor dazu gedrängt hatte, konnte ich jetzt schlecht einen Rückzieher machen.
Sie kam mit ihrem Gewehr und Munition zurück. „Was, wenn wir den weißen Wolf sehen?“
„Schieß erst, stell dann die Fragen.“
„Das könnte von mir stammen.“
Wir nahmen den Streifenwagen. Während unseres Gesprächs war die Sonne untergegangen, und Jessies Dienst hatte begonnen.
„Hast du schon nach ihrem Lager gesucht?“
„Ein bisschen, mit Mandenauer.“
Ich hätte es wissen müssen. Als Allererstes hatte ich damals von ihm einen Einführungskurs zum Thema Wie man ein Wolfslager findet erhalten. Wenn man das erst mal geschafft hatte, war der Rest ein Kinderspiel.
„Wir haben die typischen Schlupfwinkel überprüft“, fuhr Jessie fort. „Höhlen, verlassene Gebäude, Erdlöcher, eingestürzte Scheunen. Nichts.“
Mir fiel ein früheres Gespräch mit Will wieder ein. „Was ist mit dem Bergwerk?“
Sie sah mich an, die Augenbrauen überrascht gewölbt. „Lass es uns rausfinden.“
Wir fuhren aus der Stadt.
„Was ist mit Elwood?“, fragte ich.
„Was soll mit ihm sein?“
„Solltest du ihn nicht informieren, ihn wissen lassen, hinter wem wir her sind?“
Sie sah auf die Uhr. „Er hat Feierabend. Ich werde ihn nicht erreichen können.“
„Er hat kein Telefon?“
„Doch, aber er wird es nicht hören.“
„Weil?“
„Er sein Hörgerät ausschaltet, sobald sein Dienst zu Ende ist.“
Hörgerät?
Ich schüttelte den Kopf. „Was, wenn du mal Hilfe brauchst?“
„Die würde ich nicht von ihm wollen. Zittrigste Pistolenhand im ganzen Westen, weißt du noch?“
„Mann, ich fühl mich so sicher und beschützt.“
„Es hat in Crow Valley noch keinen einzigen Mord gegeben, seit es auf der Landkarte aufgetaucht ist.“
„Irgendwie bezweifle ich das.“
„Na ja, zumindest keinen, der gemeldet worden wäre.“
Was mir etwas ins Gedächtnis rief. „Ist in den letzten Tagen irgendjemand spurlos verschwunden?“
Ich dachte an den schwarzen Wol f – und die neun toten Tiere von neulich Nacht.
„Nein.“ Sie sah mich an. „Es ist seltsam, da stimme ich dir zu. Aber ohne eine Vermisstenanzeig e – was kann ich schon tun?“
„Was würdest du denn mit einer Vermisstenanzeige tun?“
„Auch nicht viel.“
Wir würden zwar wissen, wo die vermisste Person gelandet wa r – nämlich im Schlund eines Werwolf s – , aber wir könnten das nicht sagen. Sollte jemand als vermisst gemeldet werden, würde Jessie das Hauptquartier informieren. Dort würde man sich dann etwas ausdenken und sicherstellen, dass die Lüge wasserdicht war. Das war es, was wir Jägersucher taten.
„Ich werde Elwood das Foto von Hector morgen früh zeigen“, versprach Jessie. „Er hätte jetzt sowieso keinen Nutzen für uns. Er wird ein bissche n … “, sie ließ einen Finger neben ihrem Ohr kreisen, „wenn er müde ist.“
Na, super. Werwölfe, ein irrer, kannibalischer Exfreund und ein unterbelichteter Hilfssheriff. Ich liebte diese Stadt.
Wir kamen zu den südlichen Vororten. Ich war vorher noch nie in diese Richtung gefahren. Jessie bog auf eine breite Schotterstraße ab. War hier eigentlich irgendetwas asphaltiert außer dem Highway?
Dreißig Sekunden über eine andere, „gute“ Straße, dann hielt sie an. „Wir sollten besser zu Fuß weitergehen.“
Ich nickte. Wenn die Werwölfe wüssten, dass wir ihr Lager gefunden hatten, würden sie es aufgeben. Wir wären dann wieder zurück auf Anfang.
Ich überprüfte den Wind und korrigierte unsere Marschrichtung. Werwölfe konnten besser riechen, sehen und hören als echte Wölfe und definitiv besser als Menschen. Wir sollten uns deshalb gegen den Wind, leise und außer Sichtweite fortbewegen.
Ich schaute zum Himmel hoch. Der Mond wurde von Nacht zu Nacht größer. Schon bald würde er schwer und voll sein. Bis dahin mussten wir wissen, wo sie hingingen, um sich zu verwandeln. Wir mussten uns einen größtmöglichen Vorteil verschaffen. Wir mussten herausfinden, was sie planten.
Jessie ging voran; sie kämpfte sich zwischen den Bäumen hindurch, weg von der Straße. Ich folgte ein Stück links dahinter, wobei ich immer auch den Pfad in unserem Rücken im Auge behielt. Man konnte nie wissen, was sich vielleicht gerade von hinten anschlich.
Ich war beeindruckt von der Art, wie sie sich bewegte, indem sie Zweige, trockene Blätter und niedrig
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