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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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seinem Hals pochten, und so sehr er es auch versuchte, war er in den ersten Sekunden nicht dazu in der Lage, die Hände vom Lenkrad zu lösen.
    Es dauerte lange, bis sich sein Zustand wieder halbwegs normalisierte, aber irgendwann war er doch dazu in der Lage, den Motor wieder zu starten. Nacheinander schaltete er das Licht und die Klimaanlage ein und öffnete dann widersinnigerweise, aber aus dem Gefühl heraus, ersticken zu müssen, alle vier Fenster und das Schiebedach. Er fuhr einige Meter, hielt dann aber wieder an und lauschte. In der Gully-Akustik des Parkdecks hörte er natürlich nichts anderes als das Motorengeräusch seines eigenen Wagens, hundertfach gebrochen und verzerrt und zu etwas geworden, das mehr an das Arbeiten gigantischer rostiger Maschinen erinnerte, unheimlicher, uralter Mechanismen, die ein vergessenes Volk aus der Vorzeit der Erde hier unten installiert hatte. Er verscheuchte den Gedanken. Nicht nur seine Reflexe, auch seine Phantasie gehorchte ihm nicht mehr. Er mußte hier raus.
    Diesmal fuhr er sehr viel vorsichtiger. Robert hätte Schreikrämpfe bekommen und ihm wahrscheinlich ellenlange Vorträge darüber gehalten, daß man einen Wagen wie diesen damit ruinierte, wenn man ihn im Schneckentempo und mit schleifender Kupplung die Ausfahrt hinaufquälte. Trotzdem hatte Stefan noch immer das Gefühl zu rasen. Als er die Ebene erreichte, auf der die Ausfahrt lag, fuhr er so langsam, daß er den Motor um ein Haar ein weiteres Mal abgewürgt hätte. Er fragte sich, was er tun sollte, wenn der Verrückte plötzlich vor ihm auftauchte und ihm den Weg verstellte.
    Aber das Schicksal meinte es ausnahmsweise einmal gut mit ihm; auch wenn er im allerersten Moment das Gefühl hatte, sich verfahren zu haben. Das Parkdeck sah vollkommen anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Weder von dem Verrückten noch von seinem rollenden Liebesnest war eine Spur zu sehen, dann fiel ihm auf, daß jemand auch alle anderen Wagen ausgetauscht zu haben schien - der gleiche Jemand, der auch die Ausfahrt und die vollautomatische Schranke um ein gutes Stück versetzt hatte.
    Erst nach einer weiteren Sekunde erinnerte er sich. Ein- und Ausfahrt waren bei diesem Parkhaus nicht identisch, sondern lagen an entgegengesetzten Enden des Gebäudes. Gut. Auf diese Weise blieb ihm wenigstens eine weitere Begegnung mit dem Verrückten erspart.
    Langsam fuhr er weiter, hielt vor der Schranke an und grub einen Moment mit hektischen Bewegungen nach dem Ticket in seiner Jackentasche. Er fand es nicht auf Anhieb, aber doch schnell genug, bevor er in Panik geraten und sich etwa die Frage stellen konnte, ob er den Parkschein vielleicht bei seiner kleinen Rangelei vorhin verloren hatte. Die Schranke öffnete sich summend, nachdem er den Schein in den entsprechenden Schlitz geschoben hatte, und Stefan fuhr hindurch. Allerdings nur wenige Meter weit, dann hielt er wieder an und kuppelte aus, ließ den Motor aber laufen.
    Schlagartig wurde es kalt im Wagen. Der strahlende Sonnenschein und das klare Licht des Vormittags suggerierten eine Wärme, die es zu dieser Jahreszeit noch nicht gab. Stefan schaltete die Klimaanlage hastig wieder aus und mit dem gleichen Handgriff die Heizung ein. Trotzdem ließ er die Fenster geöffnet, sog den Sauerstoff tief in die Lungen und genoß die prickelnde Kälte, die der sich abkühlende Schweißfilm auf Stirn und Wangen hinterließ. Er brauchte einige Augenblicke, denn er fühlte sich momentan nicht in der Lage, den Wagen sicher durch den Straßenverkehr zu lenken. Nicht einmal mit schlechtem Gewissen. Die Ruhe, die er zu empfinden glaubte, war nicht echt.
    Sie sollte es sein. Der Zwischenfall von eben war strenggenommen lächerlich. Eine Lappalie. Der Stoff, aus dem große Dramen entstehen: Nichts. Und was ihn wirklich erschreckte, das war auch nicht die Aggressivität des Mercedesfahrers. Als Feigling aus Überzeugung überraschte ihn diese nicht nur nicht, er erwartete sie regelrecht vom Großteil seiner Mitmenschen und hatte sich infolgedessen im Laufe der Jahre eine ganze Anzahl entsprechender Strategien zurechtgelegt, um ihr zu begegnen.
    Heute hatte er keine einzige davon angewandt. Er hatte nicht einmal daran
gedacht,
sondern schnell und kompromißlos genauso reagiert wie die Menschen, die er normalerweise fürchtete. Stefan relativierte seine Gedanken von eben: Wovor er sich gefürchtet hatte, das war nicht der Verrückte aus dem Mercedes; es war das, was hätte geschehen können. Um es auf den

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