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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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statt dessen nach ihrer Tasse griff. Stefan registrierte mit einem Gefühl beiläufiger Verblüffung, daß sie das Getränk, an dem er sich gerade den Mund verbrannt hatte, in einem Zug und ohne mit der Wimper zu zucken hinunterstürzte.
    »Das sah vielleicht für euch so aus«, sagte sie schließlich. »Ich mache dir keinen Vorwurf. Ihr kennt die Sitten und Gebräuche unseres Landes nicht. Aber es war alles nur ein Mißverständnis.« Ein Tropfen Kaffee war auf ihre Hand gefallen. Sie leckte ihn ab.
    »So?« fragte Stefan. »Dann muß es sich aber um ein gewaltiges Mißverständnis handeln. Oder ist es in Ihrem Land üblich, dreijährige Kinder mitten im Winter nackt im Wald auszusetzen?«
    »Ich sagte bereits, es war ein Mißverständnis«, antwortete Sonja stur. Stefan konnte spüren, wie die Stimmung zwischen ihnen umschlug. Sonja sah plötzlich tatsächlich anders aus, ohne daß er den Unterschied in Worte fassen konnte. »Wir sind nicht hier, um -«
    »›Wir‹?« unterbrach Stefan sie.
    »Meine Brüder und ich. Die, vor denen du dich so zu fürchten scheinst.« »Ich fürchte mich vor niemandem«, log Stefan.
    »Du hast auch keinen Grund. Sag mir einfach, wo Liddia ist, und wir gehen wieder.«
    Stefan lachte. »Sind Sie verrückt? Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.« »Wir könnten dich zwingen.«
    »Ja, wahrscheinlich«, gestand Stefan, innerlich schon wieder am Rande der Panik, aber zumindest äußerlich noch vollkommen ruhig. »Aber das würde nichts ändern. Das Kind ist nicht bei uns. Wenn sie Eva zurückhaben möchten, müssen Sie sich schon an die Behörden wenden. Aber das haben Sie sicher schon getan, nicht wahr?«
    Er suchte aufmerksam nach einem verräterischen Zeichen in Sonjas Gesicht, aber wenn er sie mit seinen Worten überrascht hatte, so ließ sie sich auf jeden Fall nichts anmerken. »Warum willst du die Sache so kompliziert machen?« fragte sie. »Liddia ist meine Schwester. Sie gehört zu ihrer Familie, nicht hierher. Sie würde sich hier nicht wohl fühlen.«
    »Dann verraten Sie mir, warum ihre
Familie
sie dem sicheren Tod ausliefern wollte«, sagte Stefan scharf. »Wären Rebecca und ich fünf Minuten später gekommen, dann wäre das Kind jetzt tot.«
    »Das wäre es nicht. Die Wölfe hätten ihm nichts getan.«
    »Dann hätte es die Kälte umgebracht.« Stefans Stimme wurde schärfer. »Ich werde dieses Gespräch nicht fortsetzen. Sagen Sie mir einen guten Grund, aus dem ich Eva wieder in die Obhut von Menschen geben sollte, die offensichtlich ihr möglichstes getan haben, um es umzubringen - oder es zumindest einem Schicksal auszuliefern, bei dem sie seinen Tod billigend in Kauf nehmen.«
    Diese Worte waren ganz bewußt so gewählt. Er
wollte
nicht, daß Sonja ganz genau verstand, was er sagte, sondern sie einfach nur verwirren. Möglicherweise zu einem Fehler verleiten. Er bedauerte es im nachhinein, nicht heimlich sein
    Diktiergerät eingeschaltet zu haben, um das Gespräch mitzuschneiden. Möglicherweise hätte sich Dorn brennend dafür interessiert.
    Sonja überraschte ihn jedoch erneut, denn fremde Sprache hin oder her, sie hatte offensichtlich sehr gut verstanden, was er sagte. Und sie reagierte erneut anders, als er erwartet hatte. Der brodelnde Zorn in ihren Augen erlosch und machte einem Ausdruck von Enttäuschung und ehrlichem Bedauern Platz. »Manchmal sind die Dinge nicht das, wonach sie aussehen«, sagte sie.
    »Das stimmt«, antwortete Stefan. »Ich zum Beispiel bin weder ein Dummkopf, noch lasse ich mich so leicht ins Bockshorn jagen. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Sie einfach hier hereinspazieren können und ich Ihnen Eva übergebe, nur weil Sie mich darum bitten!«
    »Du willst mich nicht verstehen«, sagte Sonja traurig. »Das ist sehr schade.«
    Das war der Moment, das Gespräch zu beenden und sie rauszuwerfen, dachte Stefan. Ein Gespräch, das er überdies niemals hätte
beginnen
sollen. Einen Moment lang fragte er sich vollkommen fassungslos, was er eigentlich hier tat. Stand er wirklich da und diskutierte ernsthaft mit demselben Menschen über Evas Schicksal, der noch vor zwei Wochen versucht hatte, das Kind auf bestialische Weise umzubringen? Er sollte sie rauswerfen, oder die Polizei rufen. Am besten beides.
    Das Dumme war nur, daß er es nicht konnte.
    Er hatte keine Angst vor Sonja, und zumindest im Moment auch keine besonders große Angst vor ihrem Begleiter; allenfalls, daß er eine gewisse Beunruhigung und einen ersten Anflug von Sorge

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