Wolfsherz
litten; wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. So oder so, der Wagen beendete seine Drehung, rutschte noch ein Stück weiter, und Stefan trat das Gaspedal genau im richtigen Moment durch, um mit aufheulendem Motor in die Seitenstraße hineinzuschießen. Er hatte bei Tempo einhundert praktisch eine
Neunzig-Grad-Kehre gefahren. Eigentlich unmöglich, aber dramatisch.
Äußerst
dramatisch.
Und nebenbei auch ziemlich wirkungsvoll. Er sah im Rückspiegel, daß sein Verfolger versuchte, das Kunststück nachzumachen, es aber nicht schaffte. Der Honda schlitterte auf kreischenden Reifen über die Kreuzung, brach aus und war einen Sekundenbruchteil später aus dem Spiegel verschwunden. Stefan gestattete sich nicht, wirklich darauf zu hoffen, daß er mit irgend etwas kollidierte oder ihm vielleicht ein Reifen geplatzt war, aber er faßte trotzdem neue Hoffnung. Der Fahrer würde anhalten, zurücksetzen und wieder von Null an beschleunigen müssen; vielleicht verschaffte ihm das ja die paar Sekunden Vorsprung, die er brauchte, um diesen Irrsinnigen endgültig abzuschütteln.
Statt seine Geschwindigkeit zu verringern, beschleunigte er daher noch, bremste aber an der nächsten Kreuzung wenigstens weit genug ab, um einen Blick nach rechts und links zu werfen. Der Rückspiegel blieb leer. Vielleicht hatte er ja doch Glück. Vielleicht waren dem Honda wirklich die Reifen geplatzt. Oder er war gegen einen Hydranten gefahren oder sonstwas. Ganz egal, Hauptsache, er war diesen Wahnsinnigen los.
Er fuhr immer noch zu schnell, jetzt aber wenigstens nicht mehr in selbstmörderischem Tempo. Stefan nahm vorsichtig etwas Gas weg, sah wieder in den Rückspiegel und stellte fest, daß er immer noch leer war. Vielleicht hatte er wirklich Glück gehabt. Vielleicht hatte er verdammt noch mal wirklich Glück gehabt!
Stefan bog bei der nächsten Gelegenheit rechts ab, gleich darauf noch einmal und sofort danach wieder, ziellos, aber schnell, und immer ein Auge auf den Rückspiegel gerichtet. Der Honda tauchte nicht wieder auf.
Sein rasender Puls begann sich allmählich wieder zu beruhigen, und er hielt das Lenkrad jetzt nicht mehr mit solcher Kraft umklammert, daß seine Hände schmerzten. Was nicht nachließ, war das Pochen in seiner Schulter, und das dumpf verstärkte Echo darauf in seinem Bein. Trotzdem, er
hatte
Glück gehabt. Vielleicht sogar mehr, als ihm jetzt schon bewußt war. Er war nicht nur seinem Verfolger entkommen. Er hatte, abgesehen von ein paar Kratzern, weder den Wagen zu Schrott gefahren noch jemanden umgebracht oder sich selbst den Hals gebrochen. Und das vielleicht Unheimlichste war: Jetzt, im nachhinein, wurde ihm klar, daß er während der ganzen Zeit nicht eine Sekunde lang Angst gehabt hatte.
Seine Pulsfrequenz mußte sich ein paarmal der Zweihundert genähert haben, seine Hände hatten das Lenkrad so fest umklammert, daß seine Knöchel noch immer schmerzten, und er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet. Aber er hatte keine Angst gehabt. Ganz im Gegenteil: Was er fühlte, das war genau jene Art wohltuender Erschöpfung, die sich nach einer bewältigten Herausforderung einzustellen pflegt... als hätte etwas tief in ihm diese wahnwitzige Verfolgungsjagd
genossen.
Verrückt. Verrückt und gefährlich. Es wurde Zeit, daß er wieder auf den Teppich zurückkam.
Unabhängig von allem anderen - wenn Roberts Rechtsanwalt kein mittelgroßes Wunder bewirkte, dann würde er seinen Führerschein wohl in frühestens zehn Jahren wiedersehen - begann er sich zu fragen, wer die Verrückten in dem Honda eigentlich gewesen waren. Etwas in ihm war noch nicht bereit, sie und dieses sonderbare Mädchen in Zusammenhang zu bringen. Es...
paßte
einfach nicht. Und es wäre nicht nötig gewesen. Wenn sie eine gewaltsame Lösung suchten, dann hätte keine Macht der Welt Sonjas Brüder daran hindern können, vorhin einfach die Tür zu seiner Wohnung einzuschlagen und Rebeccas und Evas Aufenthaltsort aus ihm herauszuprügeln, wofür sie wahrscheinlich weniger als zehn Sekunden gebraucht hätten.
Natürlich gab es noch eine ganze Anzahl anderer möglicher Erklärungen.
Der Kerl in dem Honda konnte einfach ein Verrückter sein, ein Verkehrsrowdie, der es eilig hatte. Vielleicht hatte er sich von Stefan provoziert gefühlt, als dieser so halsbrecherisch über die Kreuzung fuhr. Würde ein solcher Mensch sein und das Leben anderer riskieren, nur um für einen kurzen Moment den Geschmack von Adrenalin auf der Zunge zu spüren?
Die Antwort
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