Wolfsherz
den Fernseher - was er ungefähr genausolange ertrug. Die bunten Bilder und die aufdringliche Musik ergaben keinen Sinn. Eine Weile zappte er wild hin und her, bis er schließlich auf einem Kanal hängenblieb, der lokale Nachrichten brachte. Er blieb dort. Die Nachrichten interessierten ihn so wenig wie die bunten Bilder zuvor, aber er verspürte eine morbide Neugier: Vielleicht brachten sie ja etwas über seine Amokfahrt am Nachmittag, jetzt, wo er von Dom erfahren hatte, daß niemand zu Schaden gekommen war, verband er damit das Gefühl eines zwar gefährlichen, aber heil überstandenen Abenteuers.
Der Nachrichtensprecher erwähnte nicht davon. Aber gerade als Stefan die Hand nach der Fernbedienung ausstreckte, um wieder umzuschalten, wurde im Hintergrund ein Bild eingeblendet, dessen bloßer Anblick Stefan regelrecht elektrisierte.
Es war eine Fotografie des Parkhauses, in dem er am Morgen gewesen war. Stefan starrte das Bild eine geschlagene Sekunde lang an, dann richtete er hastig die Fernbedienung auf den Apparat und drehte die Lautstärke auf.
»...bisher noch keine heiße Spur«, sagte der Nachrichtensprecher. Seine Stimme klang ungefähr so beteiligt, als lese er die Börsenkurse vom letzten Monat vor. »Zeugen berichten jedoch von mindestens zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Männern slawischen Aussehens, die...«
Die Worte begannen ihren Sinn zu verlieren, weil das, was Stefan nun auf dem Bildschirm sah, seine ganze Konzentration in Anspruch nahm. Das Bild des Nachrichtensprechers machte einem verwackelten, offenbar in aller Hast und nicht gut ausgeleuchtet aufgenommenem Bild eines Mercedes Platz.
Aber es war nicht
irgendein
Mercedes.
Es war der Kombi vom Morgen.
Er hatte sich verändert. Die Windschutzscheibe war verschwunden. In der Motorhaube und der offenstehenden Fahrertür prangten unzählige dunkle, runde Einschußlöcher, und irgend etwas Dunkles war herausgetropft und bildete eine erschreckend große Lache auf dem Betonboden. Beide Vorderräder waren platt, und die MPi-Salve hatte auch noch die Scheinwerfer zertrümmert und ein neues asymmetrisches Muster in den Kühlergrill gesteppt. Überall lagen Glassplitter, wie Millionen kleiner, würfelförmiger Hagelkörner. Die Opfer waren offenbar weggebracht worden, bevor das Foto aufgenommen worden war, aber inmitten der Blutlache lag ein weißer Frauenschuh.
Er hätte das Geld nehmen sollen, dachte Stefan. Er hätte es nehmen sollen. Der Mercedesfahrer brauchte es jetzt nicht mehr, und seine Frau würde sowieso alles erfahren. Der Gedanke war verrückt, aus nichts anderem als Hysterie geboren, aber er wiederholte ihn immer und immer wieder, wie ein Mantra, das sich in einer endlosen Schleife hinter seiner Stirn abspulte. Er hätte das Geld nehmen sollen. Er hätte das Geld nehmen sollen.
Absurd. Bizarr und zynisch angesichts dessen, was er auf dem grobkörnigen Schwarzweißfoto sah, aber immer noch besser, als sich dem anderen Gedanken zu stellen, der hinter diesem monotonen Mantra lauerte: daß es
seine
Schuld war. Diese beiden Menschen waren nicht etwa gestorben, weil sie im falschen Moment am falschen Ort gewesen waren, sondern weil er im falschen Moment am falschen Ort war.
Dann, warnungslos und so brutal wie ein Axthieb, schlug die Angst doch zu. Das Mantra zerplatzte, und die Erkenntnis, was das gerade Gesehene wirklich bedeutete, erfüllte Stefans Bewußtsein mit der Wucht einer Explosion. Der Schrecken, noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein, verblaßte gegen die Erkenntnis, daß nunmehr kein Zweifel mehr möglich war. Die beiden Irren, die ihn am Nachmittag verfolgt hatten, waren nicht einfach nur zwei verrückte Verkehrsrowdies, die sich mit einem gestohlenen Wagen und einem willkürlich ausgesuchten Opfer einen kleinen Spaß gemacht hatten. Hätten sie ihn erwischt, dann hätten sie ihn vermutlich getötet. Wie wenig ihnen ein Menschenleben wert war, das hatten sie am Morgen bewiesen.
Stefan begann am ganzen Leib zu zittern. Die Nachrichtensendung war längst zu Ende, aber er war nicht fähig, den Fernseher auszuschalten oder auch nur die Lautstärke herunterzuregeln. Die Titelmelodie irgendeiner amerikanischen Comedy-Serie dröhnte mit einer Phonzahl aus den Lautsprechern, die noch drei Wohnungen weiter gut hörbar sein mußte. Aber die Fernbedienung schien plötzlich eine Tonne zu wiegen. Er hatte nicht einmal die Kraft, sie zu heben. Seine Gedanken waren in einem neuen Mantra gefangen, das diesmal nicht aus
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