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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Roberts Großzügigkeit noch ein zweites Mal ausnutzen und einen Gehirnklempner kommen lassen müssen.
    Aber auch darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Er griff schneller aus, fiel aber auf der letzten Treppe wieder in eine gemäßigtere Gangart zurück; es hatte keinen Sinn, zehn Sekunden früher anzukommen, um dann fünf Minuten zu brauchen, bis er wieder weit genug zu Atem gekommen war, um überhaupt reden zu können.
    Vor der Tür zur fünften Etage hielt er an, atmete gezwungen tief ein und aus und lauschte. Nichts. Hinter der Tür aus geriffeltem Milchglas brannte Licht, aber er hörte nicht den mindesten Laut. Offenbar war die gesamte Klinik in einen kollektiven Tiefschlaf verfallen - dabei war es im Grunde noch nicht so spät. Eigentlich sollte hier ein fast normaler Tagesbetrieb herrschen. Es war jedoch vollkommen still.
    Stefan drückte behutsam die Klinke herunter, zog die Tür einen Fingerbreit auf und spähte durch den Spalt. Der Flur war hell erleuchtet, aber leer. Er konnte eine der Liftkabinen erkennen. Die Tür stand offen.
    Vorsichtig zog er die Tür weiter auf, trat auf den Korridor hinaus und warf einen raschen, sichernden Blick nach rechts und links. Der Gang war menschenleer, aber er spürte, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Nicht nur diese eine, sondern alle drei Liftkabinen waren hier oben. Die Türen standen weit offen. Jemand hatte kleine Pflasterstreifen genommen und die Sensoren der Lichtschranken blockiert.
    Aus dem leichten Unbehagen, das Stefan immer noch empfand, wurde schlagartig Beunruhigung. Irgend jemand war hierhergekommen und hatte die Aufzüge blockiert, und das ganz bestimmt nicht, um dem Hausmeister die Arbeit abzunehmen, zu spät gekommene Krankenbesucher abzuwimmeln.
    Stefan entfernte den Klebestreifen von einer der drei Türen, schaltete den Aufzug mit der gleichen Bewegung aber auch ab. Mehr konnte er nicht tun, um einen raschen Rückzug vorzubereiten.
    Gleichzeitig war da aber auch wieder diese dünne, penetrante Stimme in seinem Kopf, die Stefan dem Feigling gehörte, nicht dem Ding von der anderen Seite der Drehtür, die ihm leise, aber beharrlich davon zu überzeugen versuchte, daß das, was er tat, der pure Wahnsinn war: Es gab nicht einmal mehr das fadenscheinigste Argument, abzuleugnen, daß hier irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Statt den Helden zu spielen, sollte er das nächste Telefon suchen - und zwar das nächste Telefon auf einer
anderen
Etage! - und die Polizei benachrichtigen.
    Statt dessen näherte er sich der Kinderintensivstation, legte behutsam die flache Hand auf die gerippte Milchglasscheibe und stellte ohne echte Überraschung fest, daß sie nicht verschlossen war. Möglicherweise war sie das nie, wenn die Besuchszeit vorüber war. Wahrscheinlich aber war, daß er nicht der einzige war, der Vorbereitungen für einen raschen Rückzug getroffen hatte...
    Stefan öffnete vorsichtig die Tür.
    Das Gefühl einer drohenden Gefahr explodierte regelrecht in ihm. Die Luft stank nach Blut, Gewalt und Tod, und das Gefühl ausgeübter Gewalt wurde für einen Moment so intensiv, daß er tatsächlich einen halben Schritt zurücktaumelte. Was er roch, war nicht das Blut, das auf Spritzen aufgezogen und in kleinen Plastikbeuteln aufbewahrt wurde, sondern warmes, pulsierendes, fließendes Blut. Das in einem Akt rasender Gewalt vergossen worden war. Es war nicht ruhig - irgendwo quengelte ein Kind, das typische meckernde Säuglingsquengeln, das Kinder nur in den ersten Tagen ihres Lebens von sich gaben und dann nie wieder; er hörte das Piepsen elektronischer Geräte, das regelmäßige Klacken eines Relais, und ein weißes Rauschen, das er erst nach ein paar Sekunden als das statische Rauschen eines Radioempfängers oder auch Fernsehers identifizierte, der lief, ohne daß ein Sender eingestellt war.
    Stefan bewegte sich mit vorsichtigen kleinen Schritten den Flur entlang. Der Blutgeruch wurde immer intensiver, und er wußte schon, was ihn erwarten würde, noch bevor er die Tür öffnete und in das kleine Schwesternzimmer blickte. Eine Gestalt in einem weißen Kittel lag bäuchlings auf dem Boden zwischen dem Tisch und dem Eingang. Ihr halber Hinterkopf fehlte, aber Stefan erkannte an dem blutverklebten grauen Haar und der Statur zweifelsfrei, daß es sich um Professor Wallberg handelte. Offenbar hatte ihm jemand aus allernächster Nähe ins Gesicht geschossen. Ein Teil dessen, was von seinem Hinterkopf und dem Inhalt seines Schädels

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