Wolfsherz
fehlte, klebte an der Wand neben dem Fenster. Eine zweite reglose Gestalt lag auf der anderen Seite des Zimmers. Sie lag auf dem Rücken, aber Stefan konnte sie trotzdem nicht erkennen, denn auch sie hatte kein Gesicht mehr. Er hoffte inständig, daß es sich nicht um Schwester Da-nuta handelte.
Stefan unterdrückte die Mischung aus Übelkeit und Ekel, die in ihm emporstieg, trat mit einem viel zu großen Schritt über Wallbergs Leichnam hinweg und näherte sich dem Schreibtisch. Mit zitternden Fingern hob er das Telefon ab und wartete drei, vier Sekunden lang vergeblich auf das Freizeichen. Vermutlich mußte er eine Null wählen oder so etwas. Er tat es, erzielte auch jetzt kein Ergebnis und verschwendete noch einmal drei oder vier Sekunden damit, wahllos auf sämtliche Knöpfe des Apparates zu drücken, ehe ihm endlich klarwurde, daß er nur einen nutzlosen Hörer in der Hand hielt: Jemand hatte das Kabel herausgerissen.
Vielleicht jemand, der noch hier war.
Jemand, der möglicherweise genau in diesem Moment hinter ihm stand und darauf wartete, daß er sich zu ihm herumdrehte, damit er ihm ins Gesicht schießen konnte...
Hinter ihm war niemand. Die Horrorbilder, mit denen ihn seine Phantasie quälte, hatten keinen Biß. Er spürte einfach, daß niemand hier war. Die Station war nicht ohne Leben, aber er fühlte keine Aggression.
Trotzdem waren alle seine Sinne und Nerven bis zum Zerreißen angespannt, als er das Schwesternzimmer verließ und sich dem Raum am Ende des Korridors näherte. Er lauschte angestrengt. Alle Geräusche, die er vorhin schon gehört hatte waren noch da, und dazu zahllose andere, winzige Laute, die er normalerweise niemals bewußt wahrgenommen hätte, und trotzdem schien sich zugleich eine sonderbare Stille
über
all diese Geräusche gelegt zu haben; als gäbe es plötzlich eine Art Filter in seinem Bewußtsein, der alle Sinneseindrücke vorsortierte. Hier hatte Gewalt stattgefunden, aber es gab keine unmittelbare Bedrohung. Nicht im Augenblick.
Er kam an der Tür des Ärztezimmers vorbei und zögerte einen winzigen Moment, ging dann aber weiter. Er würde auch dort drinnen kein funktionierendes Telefon finden. Wahrscheinlich auf der ganzen Station nicht.
Der Blutgestank wurde übermächtig, als er Evas Zimmer erreichte. Stefan hob eine zitternde Hand, öffnete die Tür und schloß für die halbe Sekunde die Augen, die er brauchte, um die Schwelle zu überschreiten.
Nicht, daß es etwas half.
Was seine Augen nicht sahen, vermittelten ihm seine anderen Sinne, deren unnatürliche Schärfe plötzlich zu einem Fluch geworden war. Die Orgie der Gewalt hatte in diesem Raum ihren Höhepunkt gefunden.
Er öffnete die Augen, und das erste, was er sah, war ein umgestürzter Krankenhaus-Rollstuhl. Hätte er die Lider einen Sekundenbruchteil später geöffnet, wäre er dagegengeprallt, denn er lag unmittelbar hinter der Tür. Eines der Räder war verbogen und fast von der Achse gerissen, und die Chromteile waren fleckig von dunkel eingetrocknetem Blut.
Dann sah er Rebecca.
Sie war es nicht. Sie konnte es nicht sein, denn weder ihre Kleidung, noch ihre Statur, Haarfarbe oder -länge stimmten, aber für einen winzigen Moment, für den Bruchteil eines Augenblickes, den er brauchte, um über den umgestürzten Rollstuhl hinwegzuspringen und in den Raum hinter der gläsernen Trennwand zu gelangen, war er trotzdem hundertprozentig davon überzeugt, daß es sich bei der Gestalt, die mit dem Gesicht nach unten in einer großen Blutlache hinter der Tür lag, um Rebbecca handelte, handeln
mußte,
ganz einfach, weil die Entdeckung das schlimmste gewesen wäre, was das Schicksal ihm antun konnte, und weil das Schicksal sich seit ein paar Tagen verschworen zu haben schien, alles, was ihm widerfuhr, noch einmal zu überbieten.
Es war jedoch nicht Rebecca, sondern Schwester Danuta. Ihr war nicht ins Gesicht geschossen worden. Dafür hatte ihr jemand die Kehle herausgerissen. Als Stefan den Leichnam auf den Rücken drehte, rollte ihr Kopf so haltlos hin und her, daß er für eine halbe Sekunde ernsthaft damit rechnete, er würde abbrechen und wie ein Ball unter den nächsten Schrank verschwinden. Die Wunde war so tief, daß er das Weiß der Halswirbelsäule durch das rote Fleisch hindurchschimmern sehen konnte. Der riesigen Lache und dem schweren nassen Rot ihrer Kleidung nach zu schließen, mußte sie alles Blut verloren haben, das überhaupt in ihrem Körper gewesen war. Ihre Kehle war nicht einfach nur
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