Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Außenstehenden fast undurchschaubaren Logik aufgebaut. Und wenn er Glück hatte - wenn er ein einziges Mal in dieser Nacht Glück hatte -, dann war der Platz hinter der Theke hinter ihm nicht verwaist, weil sein Besitzer gerade die Toilette aufsuchte oder sich einen Kaffee kochte, sondern weil die Klinik längst geschlossen und die Türen für Besucher verriegelt waren. Stefan zweifelte nicht daran, daß Sonja trotzdem irgendwie hereinkommen würde. Aber auch das würde sie Zeit kosten. Zehn Minuten waren alles, was er brauchte, um Rebecca und nötigenfalls auch Eva zu nehmen und mit ihnen auf dem gleichen Weg wieder zu verschwinden, auf dem er gekommen war.
    Falls er in zehn Minuten nicht noch immer hier stand und auf den Lift wartete, hieß das. Stefan drückte zum dritten oder viertenmal den Rufknopf, ohne daß irgend etwas geschah. Der grüne Pfeil über der Tür leuchtete nicht auf, und er hörte auch nichts. Stefan versuchte sein Glück nacheinander an den beiden anderen Aufzügen, allerdings mit dem gleichen Ergebnis. Offenbar hatte man die Besucheraufzüge abgeschaltet, nachdem die offizielle Besuchszeit vorüber war und alle, die nicht hierhergehörten, das Gebäude verlassen hatten.
    Um so besser, dachte er. Selbst wenn Sonja und ihre Brüder hier auftauchten - sie konnten unmöglich wissen, auf welcher Station Eva untergebracht war. Und bis sie das Gebäude Stockwerk für Stockwerk durchsucht hatten, waren Rebecca und er wahrscheinlich schon am anderen Ende der Stadt, unterwegs zu Roberts Villa.
    Stefan warf noch einen sichernden Blick durch die Glastür nach draußen - von Sonja und ihren Brüdern war nichts zu sehen, er erblickte keine Männer mit Maschinenpistolen, und es war auch niemand da, der gerade eine Mittelstreckenrakete auf ihn richtete - dann betrat er das Treppenhaus und machte sich an den beschwerlichen Aufstieg zur fünften Etage.
    Auch hier herrschte eine fast unnatürliche Stille. Wahrscheinlich war sie normal, vor allem zu dieser Zeit und in einer Zeit, in der Treppensteigen bei den meisten Menschen schon als Leistungssport galt. In diesem Moment jedoch erfüllte sie ihn mit einem schon fast körperlichen Unbehagen. Stille - jede Art so völliger Stille - kam ihm nie mehr wie etwas Natürliches vor, sondern fast wie eine Gefahr. Stille bedeutete die Abwesenheit von Leben; oder die Anwesenheit eines Feindes, der sich vollkommen lautlos anzuschleichen wußte...
    Es war beileibe nicht das erste Mal, daß sich Stefan über seine eigenen Gedanken wunderte. Aber er hatte es aufgegeben, sich über ihre Herkunft den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht hatte die so unmittelbare, brutale Bedrohung seines Lebens, die im Wolfsherz ihren Anfang genommen hatte, irgend etwas in ihm geweckt, das allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz schon immer in ihm gewesen war. Vielleicht war es schlichtweg in jedem Menschen. Pazifismus, Ethik und Moral hin oder her -möglicherweise mußte man in jedem Menschen nur tief genug graben, um das Tier in ihm zu finden, die Bestie, die sich einen Dreck um zehntausend Jahre Zivilisation kümmerte und kompromißlos um ihr Überleben kämpfte.
    Aber das war nicht der alleinige Grund für die sonderbare Stimmung, die mit jeder Treppenstufe, die er hinaufging, mehr von ihm Besitz ergriff.
    Es war dieses Gebäude selbst.
    Die Erkenntnis kam im nachhinein, mit zehnminütiger Verspätung, aber einer plötzlichen, unzweifelhaften Sicherheit. Krankenhäuser waren für ihn stets - abgesehen von dem normalen Unbehagen, das wohl jeder darin empfindet - Orte gewesen, mit denen er durchaus positive Assoziationen verband: Hilfe, Hoffnung, Gesundheit. Das genaue Gegenteil war der Fall. Dieses Gebäude war kein Hort der Zuversicht mehr, sondern ein Haus des Leidens, ein Ort, an dem alle Krankenheiten und Schmerzen zusammengekommen waren, an dem es nur Leid, Hoffnungslosigkeit und Sterben gab. Es
roch
nach Tod. Er konnte all die Schmerzen und die Verzweiflung spüren, die seine Mauern gesehen hatten. Während er Etage um Etage hinaufstieg, glaubte er tatsächlich all die Krankheiten und Wunden zu spüren, die sich in den Zimmern auf der anderen Seite der Wände befanden: ein klebriger Gestank nach Fäulnis, Verwesung und Tod, an dem nichts Hoffnungsvolles war.
    Stefan schüttelte den Gedanken mit großer Mühe ab. Es lag nicht nur an seiner Nervosität. Er war seit einiger Zeit nicht nur sensibilisiert für Gefühle einzelner Menschen, sondern auch allgemeine Stimmungen. Vielleicht würde er

Weitere Kostenlose Bücher