Wolfsherz
Eines der Räder war verbogen, und auf dem blauen Kunststoffbezug der Sitzfläche befanden sich einige dunkle, häßlich eingetrocknete Flecke, die Stefan auf unangenehme Weise an eingetrocknetes Blut erinnerten. Es war kein Blut, auch das begriff er sofort mit Hilfe seiner unheimlichen Sinnesschärfe, und doch schockierte ihn die bloße
Möglichkeit so
sehr, daß er sekundenlang nicht einmal in der Lage war, auch nur einen Finger zu rühren, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann aber erwachte er mit einem erstickten Keuchen aus seiner Erstarrung, sprang regelrecht in den Lift hinein und schlug die flache Hand auf die Schalttafel.
Die Türen schlössen sich mit enervierender Langsamkeit, und diesmal schien eine Stunde zu vergehen, bis sich der Aufzug in Bewegung setzte. Dafür rasten Stefans Gedanken um so mehr. Irgend etwas Entsetzliches war hier geschehen; nicht in der Abteilung hinter den geschlossenen Glastüren, sondern hier, in dieser Kabine, und nicht mit
irgend jemandem,
sondern mit
Rebecca.
Sie hatte Angst gehabt, absolute, reine Todesangst, und sie hatte entsetzliche Schmerzen gelitten. Das und noch viel mehr, Hunderte, Tausende von Informationen, die er nicht einmal ansatzweise verarbeiten konnte, stürzten im Bruchteil eines Augenblicks auf ihn ein; mit solcher Wucht, daß sein Verstand darunter zu zerbrechen drohte.
Die Lifttüren glitten wieder auf, und vor ihm lag ein weiterer leerer Krankenhausflur; er hatte sämtliche Knöpfe auf einmal gedrückt, so daß der Aufzug nun auf jeder Etage anhalten würde.
Rebecca war nicht hier. Sie war auch nicht hier gewesen. Er hätte es gespürt, hätte sie den Aufzug auf dieser Etage verlassen. Er konnte nicht erklären wieso, aber er war vollkommen sicher.
Der Aufzug fuhr weiter, hielt auf der dritten Etage an, dann auf der zweiten und ersten, ohne daß er irgend etwas empfand. Stefan rührte sich nicht. Vermutlich war das ohnehin das einzige, was ihm zu tun übrigblieb: jedes logische Denken und Planen über Bord werfen und sich ganz dieser neuen Welt aus Instinkten und intuitivem Wissen anvertrauen, in die er hineingeraten war.
Der Aufzug hielt im Erdgeschoß und rührte sich nicht mehr. Er hörte Stimmen. Zu weit entfernt, um sie zu verstehen, und zu ruhig, als daß ihre Besitzer etwas von dem wissen konnten, was fünf Stockwerke über ihnen geschehen war. Rebecca hatte den Aufzug auch auf dieser Etage nie verlassen.
Stefans Gedanken rasten. Es gab nur eine einzige vernünftige Reaktion, nämlich die Kabine zu verlassen und sich an den erstbesten Menschen um Hilfe zu wenden. Die Polizei mußte bereits auf dem Weg sein. Aber auch
vernünftige Reaktionen
gehörten zu jenen Dingen, die er weit hinter sich gelassen hatte. Rebecca war in Gefahr, und das allein zählte. Er spürte - nein, er
wußte
es. Sie kämpfte um ihr Leben, vielleicht genau in diesem Moment.
Entschlossen hob er die Hand, drückte den Knopf für die Kelleretage und trat gleichzeitig so dicht an die Tür heran, wie es überhaupt möglich war, ohne die Lichtschranke zu unterbrechen. Ebenfalls gleichzeitig griff er unter die Jacke und zog die Pistole hervor, die er dem Toten abgenommen hatte. Wenn der Aufzug das nächste Mal anhielt und vielleicht jemand hinter der Tür stand und auf ihn wartete, wollte er vorbereitet sein.
Hinter der Tür im Kellergeschoß
war
jemand, aber er stürzte sich nicht auf Stefan, und er stellte auch ansonsten wahrscheinlich keine Gefahr mehr da. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer gewaltigen Blutlache. Stefan mußte seine Kehle nicht sehen, um zu wissen, welchen Anblick sie bot.
Er verließ den Aufzug, hob die Waffe mit beiden Händen und sah sich nach allen Seiten um. Er war allein mit dem Toten, aber auch einer unglaublichen Vielzahl von Gerüchen und Eindrücken, die aus allen Richtungen zugleich auf ihn einstürzten. Ohne daß er sich erklären konnte wieso, wußte er, daß dieser Mann schnell und praktisch ohne Furcht gestorben war; vielleicht hatte ihn das Schicksal zu schnell ereilt, als daß er auch nur Zeit gefunden hätte, Furcht zu empfinden. Auch er hielt eine Waffe in der rechten Hand, und als Stefan sie überprüfte, stellte er ohne Überraschung fest, daß auch daraus offenbar nicht geschossen worden war. Wer auch immer der unheimliche Killer war, der hier sein Unwesen trieb, er schlug offenbar nicht nur gnadenlos und präzise zu, sondern auch blitzschnell.
Der Gedanke beruhigte Stefan nicht unbedingt. Die Waffe in seiner
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