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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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erzählt, ist schrecklich übertrieben. Sie sind Raubtiere, aber normalerweise keine Menschenfresser.« Er stand auf. »Ich werde mich ein wenig umsehen, wenn es Sie beruhigt. Bleiben Sie hier.«
    Als er sich umwandte und wieder in die Nacht verschwinden wollte, rief Stefan ihn zurück. »Wissler!«
    Wissler drehte den Kopf und sah auf ihn herab, ohne sich noch einmal herumzudrehen. »Ja?«
    »Wer hat Sie eigentlich zu unserem Anführer gemacht?« fragte Stefan feindselig.
    »Die hier.« Wissler hob die Waffe. »Aber Sie müssen nicht tun, was ich sage. Meinetwegen gehen Sie ein bißchen spazieren. Oder klettern Sie auf einen Baum.« Er verschwand ohne ein weiteres Wort in der Dunkelheit. Stefan wäre am liebsten aufgesprungen und ihm hinterhergerannt, um ihm das überhebliche Grinsen ein für allemal aus dem Gesicht zu schlagen, aber ihm fehlte der Mut dazu. Außerdem konnte er Becci nicht allein lassen. »Mistkerl.«
    »Glaubst du, daß er recht hat?« fragte Rebecca.
    »Womit? Daß wir auf einen Baum steigen sollen?« fragte Stefan spöttisch. Rebecca blieb ernst, und Stefan fragte sich, ob er sie überhaupt jemals wieder lächeln sehen würde. »Mit den Wölfen.«
    Stefan zog sie an sich heran und legte den Arm um ihre Schulter, ehe er antwortete. »Es wäre immerhin möglich«, sagte er. »Dieses Geräusch, das wir beide gehört haben...«
    »Das war kein Wolf«, beharrte Rebecca. »Ich bin doch nicht blöd! Ich kenne den Unterschied zwischen dem Heulen eines Wolfs und einem weinenden Kind.«
    »Sicher«, sagte Stefan, der wenig Lust hatte, die Diskussion schon wieder von vorne zu beginnen - und beinahe panische Angst davor, den Schmerz in ihr wieder zu wecken. Was das Geräusch anging, teilte er Beccis Meinung nicht hundertprozentig. Natürlich wußte er, wie sich ein weinendes Kind anhörte; aber im Grunde nicht, wie ein Wolfsheulen klang. Seine Erfahrungen mit Wölfen beschränkten sich auf ein halbes Dutzend Dokumentar- und Spielfilme, die er gesehen hatte, und gelegentliche Zoobesuche. Beccis übrigens auch. Das Geräusch, das sie gehört hatten, konnte alle möglichen Ursachen haben - vom Heulen des Windes bis hin zu einem tatsächlichen Kind, das Kilometer entfernt gewesen sein mochte. Als Zivilisations- und vor allem Großstadtmenschen waren sie eine ständige Geräuschberieselung gewohnt, aber er wußte sehr wohl, daß die Akustik hier draußen ganz eigenen, anderen Gesetzen gehorchte.
    »Es war ein Kind«, beharrte Rebecca.
    »Ich widerspreche dir doch gar nicht«, antwortete Stefan.
    Rebecca funkelte ihn an. »Nein. Du ziehst es vor, gar nichts zu sagen. Ich schätze, du hältst mich für verrückt. Aber ich weiß, was ich gehört habe.«
    »Becci«, sagte er, so sanft er konnte, »ich glaube, daß... daß ich in den letzten Jahren eine Menge Dinge falsch verstanden habe, oder vielleicht einfach nicht gesehen. Wir müssen sicherlich darüber reden, aber... bitte nicht heute. Ich glaube nicht, daß ich dazu in der Lage bin.«
    »Hältst du mich für verrückt?«
    »Natürlich nicht!« antwortete er erschrocken. Aber zugleich spürte er auch, dass es vollkommen sinnlos war, weil nichts, was er sagen oder tun konnte, im Moment zu ihr durchdringen würde. Es war zum Verzweifeln, und tatsächlich war er einen Augenblick lang der Verzweiflung sehr nahe. Nicht der panischen, von Adrenalinschüben und Herzrasen begleiteten Verzweiflung, wie er sie vorhin verspürt hatte, sondern einem dumpfen, lähmenden Gefühl, das sich wie flüssiges Blei in seinen Adern ausbreitete. Er glaubte tatsächlich zu spüren, wie seine Glieder schwerer wurden. In einem Punkt hatte er recht gehabt: Er hatte zu viele Dinge in den letzten Jahren entweder nicht gesehen, oder einfach nicht sehen wollen. Er fragte sich nur, warum es ausgerechnet Jetzt sein mußte.
    »Vielleicht hast du wirklich recht«, fuhr er nach einer Weile fort. »Man mag es zwar kaum glauben, aber die Gegend hier ist bewohnt. Nicht dieses Tal, aber es gibt mehrere Dörfer in der Nähe. Vielleicht hat uns der Wind einfach einen Streich gespielt.«
    Sie antwortete nicht mehr, aber ihr Blick sprach Bände. Stefan war beinahe froh, als Wissler zurückkam. Er hatte offensichtlich keine sehr große Runde gedreht.
    »Ich glaube, ich habe einen Platz gefunden, wo wir bleiben können«, sagte er. »Einen hohen Baum?« fragte Stefan. »Fast«, antwortete Wissler grinsend. »Kommt mit.« Er winkte auffordernd mit der Hand, und Stefan und Rebecca halfen sich gegenseitig in

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