Wolfsherz
das war natürlich nicht in Ordnung. Stefan war ein überzeugter Gegner jeglicher Art von Selbstjustiz. Und doch war etwas an dem, was er gesagt hatte, das wie ein schleichendes Gift in seine Gedanken sickerte. Er wehrte sich verzweifelt dagegen, aber er spürte, daß es wirkte. Schon jetzt.
Wissler stand wieder auf. »So«, sagte er mit veränderter Stimme. »Ich glaube, das war nötig. Vielleicht können wir jetzt darüber reden, was wir weiter tun?«
»Wozu?« fragte Stefan bitter. »Sobald die Sonne aufgeht, sind wir tot.«
»Sobald die Sonne aufgeht«, antwortete Wissler, »sind wir in Sicherheit. Wir werden bei Tagesanbruch abgeholt.«
»Wie?«
»Von einem Hubschrauber«, antwortete Wissler. »Er kann bei Dunkelheit nicht hier landen. Sobald es hell wird, schon. Wir müssen nur bis zur Dämmerung durchhalten.«
»Und woher weiß der Pilot, wo wir sind?« fragte Rebecca.
»Weil er ihn gerufen hat«, antwortete Stefan düster. »Sie hatten das Peilgerät, das sie angemessen haben, nicht wahr? Es war nicht der Recorder.«
»Ich fürchte«, gestand Wissler. »Man hatte mir versprochen, daß das Gerät nicht angepeilt werden kann, aber wie Sie ja selbst gesehen haben, war dem nicht so. Ich mußte improvisieren.«
»Und Sie glauben, Barkows Leute sehen einfach so zu, wie wir in einen Hubschrauber steigen und davonfliegen?« Stefan lachte. »Sie sind verrückt!«
»Barkows Leute sind nicht das Problem«, antwortete Wissler. »Sie werden nach uns suchen, aber erst, wenn es hell ist. Aber dann sind wir schon weg.«
»Natürlich. Weil sie Angst vor der Dunkelheit haben«, sagte Rebecca spöttisch.
Wissler blieb ruhig. »Sie haben vergessen, was ich Ihnen über dieses Tal erzählt habe«, sagte er. »Niemand betritt es, und schon gar nicht bei Nacht.«
»Quatsch«, sagte Stefan. »Das sind Soldaten. Keine abergläubischen Bauern, die Angst vor einer alten Legende haben.«
»Natürlich nicht. Aber Sie kennen dieses Tal hier nicht, Stefan. Diese Männer schon. Das Gelände hier ist unübersichtlich. Es ist schon am Tage nicht ungefährlich, hier herunterzukommen. Bei Dunkelheit wird es zu einem Selbstmordunternehmen. Sie haben gar keinen Grund, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Immerhin gibt es praktisch keinen Ausgang aus diesem Tal. Sie glauben, daß wir hier festsitzen; zumindest lange genug, bis sie Verstärkung und genug technisches Gerät herbeigeschafft haben, um mit der großen Treibjagd auf uns zu beginnen.« Er seufzte. »Aber ich will Ihnen nichts vormachen. Wir haben ein anderes Problem.«
»Und welches?« fragte Stefan mißtrauisch.
»Der Grund, aus dem die Einheimischen dieses Tal fürchten«, antwortete Wissler. »Die Wölfe.«
»Wölfe?« Rebecca atmete hörbar ein.
»Sie haben sie selbst gehört«, sagte Wissler. »Erinnern Sie sich? Das Kind?« Eine Sekunde lang herrschte erschrockenes Schweigen.
Stefan warf Rebecca einen raschen, besorgten Blick zu; nicht wegen der Wölfe, wie Wissler vielleicht annehmen mochte, sondern weil er den Finger wieder auf die Wunde gelegt hatte. Der Gedanke schürte seinen Zorn erneut. Wissler hatte es nicht wissen können, aber das änderte nichts daran, daß er Rebecca schon wieder weh getan hatte. Und es machte es auch nicht besser.
»Sie sind der wahre Grund, aus dem die Einheimischen dieses Tal meiden«, fuhr Wissler fort. »Es ist eine Menge Aberglaube und Mumpitz im Spiel, aber eben leider nicht nur. Es gibt hier noch freilebende Wölfe. Wahrscheinlich nur eine Handvoll; und mit ziemlicher Sicherheit haben sie mehr Angst vor uns als wir vor ihnen. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein.«
Stefan starrte ihn an. Wisslers Worte klangen nicht nur so, als wären sie hauptsächlich dazu gedacht, um ihn selbst zu beruhigen, er sagte auch praktisch das Gegenteil dessen, was er selbst erst vor ein paar Minuten behauptet hatte. Warum sollten fünfzig schwerbewaffnete Soldaten vor etwas zurückschrecken, was sie nicht zu befürchten hatten? Wissler log - entweder in Bezug auf die Russen, oder die Wölfe.
»Wölfe«, murmelte Rebecca. »Sollten wir dann nicht... nicht besser auf einen Baum klettern oder so was?«
Wissler dachte einen Moment lang ernsthaft über diesen Vorschlag nach, aber dann schüttelte er den Kopf, lächelte und schlug mit der flachen Hand auf die Kalaschnikow, die an einem Lederriemen vor seiner Brust hing. »Uns passiert schon nichts«, sagte er. »Ich bin kein Spezialist für Wölfe, aber das allermeiste von dem, was man sich über sie
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