Wolfsherz
Wut. Er packte Wissler an der Jacke, schüttelte ihn wild und schrie: »Sie haben uns beide in Lebensgefahr gebracht! Wir werden sterben, Sie Schwein! Sie haben uns benutzt, und es ist Ihnen scheißegal, ob wir dabei draufgehen oder nicht! Sie verdammtes, widerliches Dreckschwein! Sie...« Seine Stimme wurde zu einem grotesken Quietschen und brach ab.
Ihm gingen die Worte aus. Keine Beschimpfung erschien ihm schlimm genug, keine Beleidigung ausreichend, keine Obszönität auch nur annähernd geeignet, das auszudrücken, was er für Wissler empfand.
Er schüttelte Wissler immer heftiger, holte schließlich aus und versuchte, nach ihm zu schlagen. Wissler hätte die Hiebe leicht abwehren können, aber er beschränkte sich darauf, seinen ungelenken Schlägen auszuweichen.
Schließlich traf er doch. Es tat sehr weh. Es tat ihm weh. Seine Knöchel fühlten sich an, als hätte er gegen eine Wand geboxt, und Wissler taumelte einen halben Schritt zurück. Er machte immer noch keinen Versuch, sich zu wehren, nicht einmal, als Stefan ihm nachsetzte und zu einem weiteren Schlag ausholte.
Doch er schlug nicht zu. Von einer Sekunde auf die andere schien alle Kraft aus ihm zu weichen, und ebenso schnell verrauchte seine Wut. Es war wie mit ihrem Lachen vorhin: Die kurze, aber rasende Explosion von Gefühlen und Gewalt hatte ihn nicht erleichtert, sondern ihn nur noch mehr Kraft gekostet. Er fühlte sich leer, nicht entspannt.
»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Wissler ruhig.
»Ja«, log Stefan. Er hatte nicht die Kraft, Wissler in die Augen zu sehen, und so drehte er sich mit einem Ruck herum und setzte sich wieder neben Rebecca.
»Also gut«, sagte Wissler. Er kam wieder näher. Seine Lippe war aufgeplatzt und blutete, wo ihn Stefans Faust getroffen hatte, aber er machte keine Anstalten, das Blut wegzuwischen. »Jetzt, nachdem Sie sich ausgetobt haben, können wir vielleicht über wichtigere Dinge reden.«
Stefan starrte wortlos auf seine Hand herab. Zwei seiner Knöchel waren aufgeplatzt, und die ganze Hand pochte. Er bewegte prüfend die Finger. Es tat weh.
»Oh, das auch noch«, seufzte Wissler. »Wollen Sie jetzt eine halbe Stunde schmollen, oder reichen zehn Minuten?«
»Wir reden nicht mit Mördern«, sagte Rebecca.
»Nein?« Wissler lachte. Er ließ sich vor ihnen in die Hocke sinken und legte die Arme auf die Oberschenkel. »Vor einer halben Stunde haben Sie mit einem geredet. Sie haben eine Menge Geld ausgegeben und ein enormes Risiko auf sich genommen, um mit ihm reden zu können, wenn ich mich recht erinnere.«
»Das war etwas anderes!«
»Ach?« sagte Wissler. »Wieso? Was unterscheidet mich von Barkow - abgesehen davon, daß er mindestens hundertmal mehr Menschenleben auf dem Gewissen hat? Daß er sich hinter seinen ›Prinzipien‹ verschanzt, seiner Treue und den Dingen, an die er
glaubt.
Ich bin ein Mörder und er nur das Opfer, wie? Das arme, unschuldige Werkzeug. Wissen Sie, was das ist? Gequirlte Scheiße. Dieser Kerl war nicht mehr als ein tollwütiger Hund!«
Rebecca schwieg. Sie starrte ihn nur an, aber Wissler fuhr fort: »Was gibt Ihnen das Recht, mich zu verurteilen und ihn nicht? Weil ich Sie benutzt habe, um an ihn heranzukommen? Dieser Kerl hat nichts anderes verdient als den Tod. Er war ein Ungeheuer. Ein Psychopath, der aus Freude gemordet hat.«
»Und Sie sind sein Richter?« fragte Becci.
»Warum nicht? Jemand mußte ihn aufhalten.«
»O ja«, sagte Rebecca höhnisch. »Und Gott hat Sie dazu auserkoren, diesen Akt himmlischer Gerechtigkeit zu vollstrecken! Oder waren es vielleicht Ihre Auftraggeber, die Angst hatten, er könnte zuviel erzählen?«
»Ja«, antwortete Wissler gelassen. »Und? Sie begreifen anscheinend immer noch nicht, wer dieser Kerl war. Nichts anderes als ein wahnsinniger Massenmörder. Jemand mußte ihn stoppen. Und ich habe mir das Recht genommen, dieser Jemand zu sein. Vielleicht bin ich nicht besser als er, aber ich glaube nicht, daß Sie das entscheiden können.«
Rebecca ballte die Fäuste. Ihre Augen füllten sich schon wieder mit Tränen, aber es waren jetzt Tränen der Wut. Auch Stefan war aufgewühlt. Er war zornig auf Wissler, weil er Rebecca weh getan hatte, aber er war auch erschrocken über seine eigenen Gefühle. Wisslers Worte empörten ihn nicht annähernd so sehr, wie sie es eigentlich müßten. Wissler spielte Gott. Er hatte sich den Pistolengürtel umgeschnallt, Wyatt Earps Hut aufgesetzt und sich selbst zum Richter aufgeschwungen, und
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