Wolfsherz
die Höhe. Die Bewegung bereitete Stefan mehr Mühe, als er erwartet hatte. Den Extremleistungen, die er seinem Körper abverlangt hatte, folgte nun die Abspannung, schneller und totaler, als er es sich je hätte träumen lassen. Er war sicher, daß er sofort einschlafen würde, wenn er länger als fünf Sekunden die Augen schloß, Lebensgefahr hin oder her. Irgendwie fand er die Vorstellung sogar belustigend, seinen eigenen Tod zu verschlafen. Zumindest wäre es eine bequeme Lösung.
»Haben Sie irgendwelche Wölfe getroffen?« fragte Rebecca. »Nein.« Wissler lächelte amüsiert, aber sein Blick sagte etwas anderes. »Seien Sie froh, Kleines.« »Nennen Sie mich nicht Kleines«, sagte Rebecca scharf. »Ich bin älter als Sie.«
»Nur biologisch«, erwiderte Wissler gelassen. »Und falls Sie Wert darauf legen, es zu bleiben, dann reden Sie etwas leiser. Man kann eine Stimme hier kilometerweit hören.«
Rebecca schenkte ihm einen wütenden Blick, aber sie war klug genug, den sinnlosen Streit nicht fortzusetzen, ob aus Einsicht oder Trotz, konnte Stefan nicht beurteilen. Was er jedoch sehr wohl beurteilen konnte, das war Beccis Gemütszustand. Ihre Reaktion unterschied sich gar nicht so sehr von seiner eigenen. Die Wutexplosion, der er sich hingegeben hatte, erfolgte bei ihr als Schwelbrand, aber das Ergebnis mochte dasselbe sein.
Er ging ein wenig schneller und wie zufällig so, daß er den direkten Blickkontakt zwischen ihnen unterbrach. Plötzlich blieb Wissler stehen und hob warnend die Hand.
»Was -?« begann Stefan, aber Wissler hob die Hand noch höher, und er verstummte. Einen Moment lauschte er gebannt, aber er hörte nichts. Nur den Wind.
Wissler ergriff die Maschinenpistole mit beiden Händen und sah sich suchend um. Stefans Blick folgte seiner Bewegung, ohne daß er irgend etwas Auffälliges sah oder hörte. Wissler jedoch mußte wohl irgend etwas entdeckt haben, denn er wandte sich schließlich nach links und ging vorsichtig weiter. Gleichzeitig machte er eine unmißverständliche Geste zu ihnen, zurückzubleiben.
Stefan wäre nicht einmal in der Lage gewesen, ihm nachzugehen, wenn er gewollt hätte - und er wollte eindeutig
nicht.
Aber ebensowenig wollte er allein in der Dunkelheit zurückbleiben. Er haßte sich selbst dafür, aber er gestand sich ein, daß er Wissler bereits als Beschützer akzeptiert hatte. Er wartete mit klopfendem Herzen darauf, daß Wissler zurückkam.
Er kam nicht. Seine Schritte waren fast im gleichen Moment verklungen, in dem die Dunkelheit seine Gestalt aufgesogen hatte wie die Realität ein Gespenst. Eine Minute verging, eine zweite, und dann noch eine. Drei Ewigkeiten. Sein Herz raste.
»Stefan!«
Er hätte beinahe aufgeschrien. Erschrocken fuhr er herum und bemerkte erst jetzt, daß Becci nicht mehr neben ihm stand. Sie hatte sich einige Schritte weit in die entgegengesetzte Richtung wie Wissler entfernt und war halb in einem verschneiten Busch verschwunden. Sie sah zu ihm zurück und winkte aufgeregt mit beiden Armen. »Komm her! Schnell!«
Stefan lief zu ihr hin und versuchte, einen Blick durch das verschneite Geäst auf das zu werfen, was Rebecca offensichtlich so erregte. Im ersten Moment erkannte er nichts außer Schnee und Schatten. Dann begriff er seinen Irrtum. Es war kein Schnee. Und es waren auch nicht nur Schatten.
Auf der anderen Seite des Busches lag eine reglose Gestalt in einem weißen Tarnanzug. Und die Dunkelheit, die den Schnee rings um sie herum bedeckte, bestand zu einem Gutteil aus eingetrocknetem Blut.
»Großer Gott!« murmelte er, riß sich aber dann zusammen und machte eine befehlende Geste zu Rebecca. »Bleib hier.«
Rebecca hatte ohnehin keine Bewegung gemacht, sich dem Toten weiter zu nähern, und es war auch so ungefähr das letzte, was Stefan wollte; trotzdem bahnte er sich gewaltsam einen Weg durch das Gebüsch und ließ sich neben dem Russen in die Hocke sinken. Ein süßlicher, Übelkeit erregender Geruch stieg ihm in die Nase: Blut. Der Mann war noch nicht lange tot. Aber Wissler war ja auch nicht lange weggeblieben.
Als hätte allein der Gedanke an ihn gereicht, hörte er näher kommende Schritte, und einen Moment später Wisslers Stimme: »Verflucht, was soll das? Ich habe gesagt, ihr sollt -«
Wissler verstummte mitten im Wort. Stefan sah hoch. Wissler war neben Rebecca stehengeblieben und starrte mit einer Mischung aus Schrecken und Erstaunen abwechselnd auf ihn und den toten Soldaten herab.
»Saubere Arbeit«, sagte
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