Wolfsherz
genug, um zu wissen, daß er niemals etwas grundlos tat. Seine Art, mit der Beamtin zu reden, war genau überlegt.
»Sehen Sie, es ist wirklich von enormer Wichtigkeit, daß die ganze Geschichte möglichst diskret abgewickelt wird.«
»Geschichte?« Frau Halberstein runzelte übertrieben die Stirn. »Entschuldigen Sie, Herr Riedberg, aber ich bin nicht wegen einer Geschichte hier. Ich interessiere mich auch nicht für Politik oder diplomatische Verwicklungen. Es geht hier um ein Kind, das -«
»- bisher offensichtlich niemand vermißt«, fiel ihr Robert ins Wort, immer noch lächelnd, aber in leicht schärferem Ton und um eine Nuance lauter. »Seine Eltern sind mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben, und das Mädchen wäre es mit Sicherheit nicht mehr, wenn meine Schwester und ihr Mann nicht gewesen wären.«
»Das mag ja alles sein«, antwortete Frau Halberstein. Sie blickte unsicher von einem zum anderen, klappte ihre Handtasche auf und zog eine einzelne Zigarette heraus, die sie sich anzündete, ehe sie weitersprach. »Trotzdem gibt es nun einmal gewisse Regeln, an die wir uns halten müssen. Ihre Schwester hat ein Kind aus einem fremden Land mitgebracht, über das wir nichts wissen. Wir kennen weder seinen Namen, noch wissen wir etwas über das Schicksal seiner Eltern oder die Umstände, unter denen es« - sie zögerte einen Moment und sah dabei unsicher in Rebeccas Richtung - »ausgesetzt wurde. Selbst wenn alles war, wie Sie gesagt haben, könnte hier ein Verbrechen vorliegen, das erst geklärt werden muß.«
»Das einzige Verbrechen ist an Eva begangen worden«, sagte Rebecca scharf.
Die Sozialarbeiterin nahm einen Zug aus ihrer Zigarette und wandte sich nun direkt an sie. Im stillen bewunderte Stefan die Selbstbeherrschung der Frau, aber vermutlich war es so, wie sie gesagt hatte: Sie war es gewohnt, mit Menschen zu reden, die unter gewaltigem Druck standen, und sie war es wohl auch gewohnt, daß man versuchte, sie selbst unter Druck zu setzen.
»Ich kann Sie ja durchaus verstehen, Frau Mewes, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß wir die Angelegenheit so unbürokratisch und schnell über die Bühne bringen werden, wie es möglich ist. Aber gewisse Spielregeln müssen nun einmal eingehalten werden. Ich weiß nicht, was hinter der ganzen Sache steckt, aber ich kann Ihnen versichern, daß das Wohl eines Kindes bei uns immer noch höher geachtet wird als diplomatische Verwicklungen.«
Rebecca setzte zu einer scharfen Antwort an, doch ihr Bruder brachte sie mit einer raschen Geste zum Schweigen. »Das ist mir klar«, sagte er. »Und um das ganz deutlich auszusprechen:
Ich will Sie keineswegs irgendwie unter Druck setzen oder gar bedrohen.«
»Das hätte auch wenig Sinn«, sagte Frau Halberstein kühl.
»Und wenn ich das wollte, würde ich es nicht so anfangen«, fuhr Robert unbeirrt fort. »Ich bitte Sie einfach nur, die Angelegenheit möglichst diskret zu behandeln, das ist alles.«
»Und deshalb haben Sie mich hierher zitiert?« Sie klang ein bißchen beleidigt.
Robert schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten, was das Mädchen betrifft. Sie haben mit Professor Wahlberg gesprochen, nehme ich an.«
»Noch nicht. Der medizinische Bericht -«
»- enthält vielleicht nicht unbedingt alle Fakten«, sagte Robert. »Das Mädchen -« Er warf einen raschen Blick in Beccis Richtung und verbesserte sich: »Eva ist zwar körperlich gesund, aber es gibt da einige Punkte, die nicht im offiziellen Krankenbericht stehen, die Sie aber wissen sollten.«
Halberstein wurde hellhörig. »Welche?«
»Nun, Eva ist das, was die Wissenschaftler vermutlich als interessanten Fall bezeichnen würden«, antwortete Robert. »Wie es aussieht, ist sie wohl von ihren Eltern ausgesetzt und von wilden Tieren großgezogen worden.«
Die Beamtin blinzelte. Zwei, drei Sekunden lang sah sie Robert völlig verwirrt an, dann erkannte Stefan zum erstenmal so etwas wie eine menschliche Regung auf ihren Zügen; ein unsicheres, nervöses Lächeln, das aber genauso schnell wieder erlosch, wie es erschien. »Wie bitte?«
»Bisher ist es nur eine Vermutung.« Robert wiegelte ab. »Sie sollten auf jeden Fall selbst mit Professor Wahlberg reden, um sich ein Bild zu machen, doch bisher sieht es ganz so aus, als hätte das Kind viele Monate, wenn nicht länger, allein draußen in der Wildnis verbracht. Sie wird also auf jeden Fall noch eine geraume Weile hier in der Klinik bleiben müssen, und
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