Wolfsherz
mit großer Wahrscheinlichkeit braucht sie auch später eine sehr intensive Betreuung und Pflege.«
»Und Sie glauben, Sie wären dazu in der Lage?« Halberstein wandte sich direkt an Rebecca und bemühte sich zumindest, sachlich zu klingen. Ganz gelang es ihr nicht.
»Selbstverständlich nicht«, sagte Robert rasch, »was die medizinische Betreuung angeht. Aber sie ist durchaus in der Lage, für sie zu sorgen. Sie sehen also, daß eine Einweisung in ein Heim oder Waisenhaus ohnehin nicht in Frage käme. Ich schlage deshalb vor, daß Sie Eva in die Obhut meiner Schwester und ihres Mannes geben, sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen wird. Rebecca hat Ihnen ja bereits gesagt, daß es ihr Wunsch ist, das Mädchen zu adoptieren.«
»Ganz so einfach ist das nicht«, antwortete Frau Halberstein. Es klang automatisch, fast schon wie ein Reflex.
»Das ist mir klar«, sagte Robert. »Wir verlangen auch keine Wunder von Ihnen. Nur ein bißchen guten Willen und etwas Verständnis.«
Frau Halberstein musterte ihn kühl. »Das allein wird wohl nicht reichen«, sagte sie. »Eine Adoption...« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht so einfach, wie Sie zu glauben scheinen. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht alleine entscheiden.«
»Und Sie wollen es nicht«, vermutete Rebecca.
»Das ist nicht die Frage«, erwiderte die Beamtin. Sie blieb ganz ruhig, und Stefan begriff, daß sie in solchen Gesprächen einfach mehr Übung hatte. Obwohl sie kaum älter sein konnte als Becci oder er, hatte sie vermutlich bereits alle Spitzfindigkeiten, rhetorischen Schlenker und Fangfragen gehört, die es nur gab. Es war vollkommen sinnlos, sich auf
diesem
Gebiet auf einen Schlagabtausch mit ihr einzulassen.
Rebecca schien das anders zu sehen, denn sie beugte kampflustig den Oberkörper ein wenig vor und legte beide Hände flach nebeneinander auf die Tischkante. Ihre ganze Haltung drückte plötzlich Aggression aus; in einer Art und Weise, die Stefan beinahe erschreckte. Einer der Gründe, aus denen er sie geheiratet hatte, war ihr Temperament, aber er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so erlebt zu haben. Zumindest nicht grundlos.
»Es interessiert mich nicht, was Ihre Spielregeln dazu sagen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Diese Leute hätten Eva umgebracht, wenn wir nicht dazugekommen wären. Sie wollten sie irgendeinem heidnischen Aberglauben opfern. Sie verlangen doch nicht im Ernst, daß wir sie ihnen zurückgeben?«
Halberstein wollte antworten, aber wieder kam ihr Stefans Schwager zuvor. Mit einer besänftigenden Geste in die Richtung seiner Schwester sagte er rasch: »Das ist natürlich nur eine Vermutung. Aber sie ist nicht ganz grundlos. Wie gesagt, Frau Halberstein, ich bin (eider nicht in der Lage, ihnen die ganze Geschichte zu erzählen, aber ich nehme an, Sie haben bereits einen Eindruck von den wahren Hintergründen erhalten.«
»Das habe ich in der Tat«, sagte die junge Beamtin, und Stefan fragte sich, wie sie das wohl meinte. Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe«, sagte sie. »Ich habe wirklich nicht sehr viel Zeit - aber ich verspreche Ihnen, daß ich mich schnellstmöglich um die Angelegenheit kümmern werde.«
Sie ging ohne ein weiteres Wort. Auf dem Weg zur Tür hielt sie weder an, noch warf sie einen Blick zurück, aber Stefan erkannte an ihrer angespannten Haltung und ihren schnellen, fast abgehackten Schritten, daß sie innerlich nicht annähernd so ruhig war, wie sie sich gab. Und wieso auch nicht? Zumindest von ihrem Standpunkt aus mußte es eindeutig so aussehen, als hätten Robert und Rebecca versucht, sie einschüchtern.
Stefan musterte seinen Schwager mit immer größer werdender Verwirrung, jetzt aber auch einer Spur von aufkeimendem Zorn. Was Robert da gerade getan hatte, war, gelinde ausgedrückt, nicht sehr klug gewesen. Und das war etwas, das so ganz und gar nicht zu seinem Schwager paßte. Wenn es etwas gab, was er an Rebeccas Bruder stets bewundert hatte, dann war es dessen messerscharfer Verstand und seine stets kühle, sachliche Art, Probleme anzugehen und zu bewältigen.
Der Mann hinter ihm bewegte sich. Stefan rückte mit dem Stuhl etwas näher an den Tisch heran, damit er aufstehen konnte, und als er sich an ihm vorbeiquetschte, hatte er aus den Augenwinkeln einen flüchtigen Eindruck von verwaschenen Jeans, einer schwarzen Lederjacke und kurzgeschnittenem, weißblondem Haar. Der Schatten einer
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