Wolfsherz
aber Stefan konnte trotzdem erkennen, daß es sich um einen Mann handelte. Er las in einer Zeitung, trug eine schwarze Lederjacke und hatte kurzgeschnittenes, weißblondes Haar.
Die Aufzugtür schloß sich halb, berührte sacht seine Schulter und glitt dann summend wieder zurück, als die Automatik den Widerstand registrierte, aber die Berührung riß Stefan aus seiner Erstarrung. Noch bevor der helle Glockenton erklang, mit dem der computergesteuerte Lift sich über diese Störung seines eingegebenen Programms beschwerte, trat er vollends aus der Kabine heraus, blieb aber nach einem Schritt wieder stehen. Sein Herz klopfte, und er spürte, wie auch seine Finger wieder zu zittern begannen, während er den Fremden anstarrte, der neben der Tür saß. Auch er schien das leise »Pling« des Aufzuges gehört zu haben, denn er hatte den Kopf gehoben, drehte sich aber nicht um, sondern betrachtete die Spiegelung der Eingangshalle in der großen Scheibe vor sich, so daß Stefan sein Gesicht immer noch nicht erkennen konnte.
Er war gut zwanzig Meter von ihm entfernt, und das Licht in der Halle war heruntergedreht, im Grunde nur noch ein matter Schimmer, gerade ausreichend, um sich sicher bewegen zu können, aber nicht, um das Gesicht einer Person zu identifizieren, die er ohnehin nur flüchtig gesehen hatte. Und trotzdem war Stefan vollkommen sicher, daß es der gleiche Bursche war, den er am Mittag am Kaffeeautomaten getroffen hatte und hinterher in der Cafeteria; und plötzlich war die Panik wieder da.
Sein Herz begann zu rasen, und die Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Eine Sekunde lang war der einzige Reflex, der seine Gedanken beherrschte, Flucht.
Aber dann geschah etwas, und der Blonde saß immer noch reglos da und starrte das Spiegelbild in der Scheibe vor sich an. Er hatte die Zeitung auf die Knie sinken lassen, und Stefan fühlte seinen Blick so intensiv, als stünden sie sich auf Armeslänge gegenüber, und auf eine unangenehme, fast schon wieder angst machende Art. Alles in ihm schrie immer noch danach, einfach davonzulaufen, aber er tat es nicht. Statt dessen raffte er all seinen Mut zusammen, straffte die Schultern und ging auf den Fremden zu.
Er bekam den Beweis dafür, daß der Mann ihn beobachtete, denn dieser stand fast im gleichen Moment auf, legte die Zeitung achtlos auf einen leeren Stuhl neben sich und ging zur Tür.
»Hallo!« rief Stefan.
Der Fremde reagierte nicht.
Stefan sah aus den Augenwinkeln, wie die beiden Krankenschwestern hinter dem Empfang ihr Gespräch erneut unterbrachen und in seine Richtung blickten, beschleunigte seine Schritte ein wenig und rief noch einmal: »Hallo, Sie da!«
Der andere machte auch jetzt noch keine Anstalten, stehenzubleiben oder wenigstens einen Blick zu ihm zurückzuwerfen, sondern ging im Gegenteil ein bißchen schneller. Nicht viel. Er rannte nicht, beschleunigte seine Schritte aber doch merklich und so, daß Stefan ihn nicht einholen würde, bevor er durch die Ausgangstür verschwunden war.
»Warten Sie!« rief Stefan. »Ich muß mit Ihnen reden!« Es war ihm jetzt egal, was die beiden Krankenschwestern von ihm dachten oder was die Stimme in seinem Kopf schrie, die sich immer verzweifelter zu Wort zu melden versuchte, um ihm klarzumachen, daß er etwas vollkommen Verrücktes tat. Gegen jede Vernunft beschleunigte er seine Schritte noch mehr und begann schließlich zu rennen, als der Bursche den Ausgang erreichte und die Türen automatisch vor ihm auseinanderglitten.
»Warten Sie!« rief Stefan.
Der Fremde trat mit zwei schnellen Schritten aus der Tür und wandte sich nach rechts. Stefan murmelte einen Fluch und rannte noch schneller, aber er kam trotzdem zu spät. Die Türen begannen sich wieder zu schließen, und die knappe Sekunde, die die Automatik brauchte, um auf seine Annäherung zu reagieren und die beiden Türhälften wieder auseinandergleiten zu lassen, reichte dem Fremden aus, um in der Dunkelheit draußen zu verschwinden. Stefan stürmte hinter ihm her, wandte sich blindlings in die Richtung, in die er gegangen war, und stolperte ein gutes Dutzend Schritte weit in die Nacht hinein, ehe er schließlich mit klopfendem Herzen und schwer atmend, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich, wieder stehenblieb. Er war allein. Der andere war so spurlos in der Nacht verschwunden wie ein Geist.
Stefan lauschte einen Moment angestrengt. Die Dunkelheit, die ihn umgab, war alles andere als still. Er hörte die normalen Geräusche des Krankenhauses,
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