Wolfsherz
die Laute der Autos, die unten auf der Straße vorbeifuhren, das monotone Hintergrundsummen der Stadt und das kratzende Heulen eines Flugzeugs, das weit entfernt auf dem Flughafen zur Landung ansetzte. Aber nicht das, worauf er lauschte. Die Schritte eines Menschen. Dabei
konnte
der andere nicht mehr als zehn oder fünfzehn Meter Vorsprung vor ihm gehabt haben, und noch dazu war er langsam gegangen, während er selbst gerannt war. Er war entweder wirklich ein Geist - oder er war stehengeblieben und beobachtete Stefan aus der Dunkelheit heraus.
Plötzlich war die Angst wieder da. Und jetzt endlich verstand er auch die Stimme seiner Vernunft, die er die ganze Zeit über so verbissen ignoriert hatte. Was tat er hier eigentlich? Wenn er sich irrte und der Fremde nur das Pech hatte, die gleiche Jacke und Haarfarbe zu haben wie der Bursche, den er am Morgen getroffen hatte, dann würde er sich nur lächerlich machen. Und wenn es wirklich irgendein vollkommen durchgeknallter Typ war, der es grundlos auf ihn abgesehen hatte - nun, dann tat er vielleicht besser daran, nicht hier draußen zu sein.
Stefan warf einen hastigen Blick nach rechts und links, bewegte sich die Hälfte des Weges, den er gekommen war, rückwärts gehend zurück und drehte sich erst wieder um, als er in den schwachen Lichtschimmer hineintrat, der durch die Glastüren des Krankenhauses fiel. So schnell, wie es ihm gerade noch möglich war, ohne erneut zu rennen, trat er in die Eingangshalle zurück und brachte einen Sicherheitsabstand von weiteren zehn, zwölf Schritten zwischen sich und die Tür, ehe er wieder stehenblieb und sich umdrehte.
Natürlich sah er nichts. Die fast vollkommene Dunkelheit draußen und das Licht hier drinnen verwandelten die gläserne Front in einen schwarzen Spiegel, der alles verschluckte, was auf der anderen Seite der Scheibe lag. Aber er erschrak, als er sein eigenes Spiegelbild erblickte. Er war kreidebleich geworden, und seine Frisur war so durcheinander, als hätten sich ihm vor Angst buchstäblich die Haare gesträubt. Vielleicht hatten sie es.
Mit Mühe riß er sich von seinem eigenen Konterfei los, drehte sich vollends herum und trat auf die Empfangstheke zu. Eine der beiden Krankenschwestern, die ihren Nachtdienst dahinter angetreten hatten, blieb reglos sitzen und sah ihm sehr aufmerksam entgegen. Ihre linke Hand lag flach auf dem Tisch, während die andere darunter verschwunden war; Stefan war sicher, daß ihr Finger über irgendeinem Alarmknopf schwebte.
Die andere stand auf, kam ihm entgegen und fragte: »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«
Stefan schüttelte hastig den Kopf. »Nein. Es war eine Verwechslung. Ich dachte, ich... ich hätte jemanden erkannt. Aber ich muß mich wohl getäuscht haben.« Er verbiß sich im letzten Moment die Frage, ob die Schwester vielleicht wußte, wer der Fremde gewesen war. Wenn er sich in ihm irrte, spielte es keine Rolle; wenn es der war, für den er ihn hielt, hatte er sich bestimmt nicht vorgestellt.
Er überlegte eine Sekunde angestrengt, kam zu dem Schluß, daß es an der Zeit war, zur Abwechslung einmal etwas Vernünftiges zu tun und griff in die Jackentasche. Seine Finger fanden die Visitenkarte, die ihm Dorn gegeben hatte, auf Anhieb und zogen sie heraus. »Gibt es hier ein Telefon?« fragte er.
Die Schwester nickte wortlos und hob die Hand. Stefans Blick folgte der Geste und erkannte gleich drei halbverglaste Telefonzellen, die unangenehm dicht beim Eingang standen. Jetzt, wo der kurze Anflug von Heldenmut - oder Dummheit - vorüber war, meldete sich der altbekannte, überängstliche Teil in ihm wieder zu Wort. In diesen Telefonzellen war er hilflos, sollte jemand hereinkommen. Sie waren zur Halle hin durch eine Reihe fest mit dem Boden verbundener Plastikstühle blockiert, so daß er nicht einmal schnell davonlaufen konnte, wenn sein unbekannter Freund wieder auftauchte.
Er verscheuchte den Gedanken, drehte sich abrupt um und trat an einen der Apparate heran. Niemand würde hereinkommen. Wenn der Kerl wirklich hier gewesen war, um ihm aufzulauern, dann hatte er seine Chance gerade gehabt; oder würde sie noch bekommen, denn früher oder später mußte er erneut in die Dunkelheit hinaus. Stefan verfluchte sich jetzt in Gedanken dafür, den Wagen unten an der Straße geparkt zu haben, um die zwei Mark für die Tiefgarage zu sparen.
Er trat an den ersten der drei Apparate heran, stellte fest, daß es ein Kartentelefon war und ging dann in die benachbarte Zelle.
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