Wolfsherz
Seine Finger zitterten immer noch leicht, als er die Visitenkarte vor sich auf der Ablage plazierte und eine der beiden Nummern wählte, die darauf standen. Wenn man bedachte, daß er schließlich die Nummer einer
Polizeiinspektion
gewählt hatte, dauerte es erstaunlich lange, bis sich jemand meldete, und es war auch nicht Doms Stimme.
»Polizeiinspektion Alserstraße, Kommissariat vier.«
»Guten Abend«, sagte Stefan. »Inspektor Dom, bitte.«
»Oberinspektor Dorn ist zur Zeit nicht hier«, antwortete die namenlose Stimme. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Stefan schwieg. Er war auf eine naive Art enttäuscht und überrascht zugleich. Natürlich war Dom nicht mehr im Dienst.
Es war mittlerweile fast neun, und der Mann mußte längst zu Hause sitzen und seinen wohlverdienten Feierabend genießen. Um so überraschter war Stefan über seine eigene Reaktion. Er hatte bis zu dieser Sekunde nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß es so sein könnte.
»Worum geht es denn?« fragte die Stimme am Telefon noch einmal, als er auch nach zwei oder drei Sekunden nicht antwortete.
»Es ist... nichts«, sagte Stefan zögernd. Aber diese Behauptung klang wohl nicht besonders überzeugend, denn der andere fuhr fort:
»Wenn es etwas Dienstliches ist, so können Sie mir ruhig -«
»Es ist wirklich nichts«, sagte Stefan noch einmal. »Es ist mehr... privat. Entschuldigen Sie die Störung.« Er hängte ein. Natürlich war Dorn nicht da; schon weil die Polizei offensichtlich
niemals
da war, wenn man sie wirklich brauchte.
Stefan lächelte bitter über diesen billigen Scherz, den er offensichtlich so verinnerlicht hatte, daß ihm selbst in einem Moment wie diesem nichts Besseres einfiel. Er hob den Hörer wieder von der Gabel und kramte mit der anderen Hand die Münzen wieder aus dem Telefon, um die zweite Nummer anzurufen, die auf der Karte stand. Aber schon nach der dritten Ziffer zögerte er. Es war Doms Privatnummer. Vielleicht saß er ja gerade beim Abendessen, sah sich in Ruhe einen Film im Fernsehen an oder schlief mit seiner Frau... Stefan fielen auf Anhieb ungefähr tausend Gründe ein, aus denen Dorn ziemlich ungehalten reagieren konnte, wenn er ihn jetzt zu Hause störte. Und was wollte er ihm auch sagen? Daß er einen Mann gesehen hatte, der - von hinten, aus großer Entfernung und im Halbdunkel - so aussah wie der Bursche, der ihm am Morgen aufgefallen war? Und der das Kapitalverbrechen begangen hatte, um neun Uhr abends in der Eingangshalle der Klinik zu sitzen und Zeitung zu lesen?
Er hängte wieder auf, wartete, bis der Apparat sein Kleingeld wieder ausgespuckt hatte und steckte es zusammen mit Doms Visitenkarte in die Jackentasche. Er würde Dorn am nächsten Morgen von seiner Beobachtung erzählen. Falls er ihm glaubte -
wenn
er es tat -, konnte er immer noch mit einem einzigen Anruf die beiden Schwestern ausfindig machen, die hinter dem Empfang saßen und die Szene beobachtet hatten.
Vermutlich
würde
er ihm nicht glauben. Stefan gestand sich ein, daß es ihm umgekehrt wohl auch schwerfallen würde, jemandem Glauben zu schenken, der mit einer so haarsträubenden Geschichte daherkam.
Der helle Glockenton des Aufzugs drang in seine Gedanken. Stefan sah automatisch hoch und runzelte überrascht die Stirn, als er Schwester Marion erkannte, die mit energischen Schritten aus dem Lift heraustrat, dann aber plötzlich mitten in der Bewegung stockte und ihn mindestens genauso überrascht ansah wie er sie. Eine Sekunde später breitete sich ein erfreutes Lächeln auf ihren Zügen aus. Sie wechselte abrupt die Richtung, kam auf ihn zu und sagte:
»Herr Mewes! Schön, daß ich Sie noch treffe.«
»Ist meine Frau zurück?« fragte Stefan.
»Nein, aber ich weiß, wo sie ist. Ich bin unterwegs, um sie abzuholen. Warum begleiten sie mich nicht?«
»Abholen? Wo?«
Schwester Marion grinste schief und schüttelte gleichzeitig die Hand, als hätte sie sich die Finger verbrannt. »Ich sagte Ihnen doch: Doktor Krohn trifft der Schlag, wenn er erfährt, daß sie schon wieder aus ihrem Zimmer ausgebüxt ist. Vielleicht ist es besser, wenn sie dabei sind, wenn ich sie zurückbringe.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Stefan. »Sie ist in der Kinderklinik.«
Marion nickte. »Wo sonst? Doktor Krohn hat schon ernsthaft überlegt, eine Standleitung dorthin zu schalten, damit man ihm gleich Bescheid gibt, wenn Ihre Frau dort auftaucht.«
Stefan fand das nicht besonders komisch, aber er lachte kurz und
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